Gesellschaft | Interview

“Die Kirche hat eine schwere Hypothek”

Sexueller Missbrauch durch Kleriker darf für die Diözese Bozen-Brixen kein Tabu bleiben, fordert der Theologe Robert Hochgruber. Er hofft auf “ein reinigendes Gewitter”.
Robert Hochgruber
Foto: Privat

Wegschauen, vertuschen, verharmlosen, verschweigen. Sich mehr um den Schutz der Täter als um die Opfer kümmern. Das Gutachten der Anwaltskanzlei Westpfahl Spilker Wastl (WSW) ist ein Dossier des Grauens. Im Auftrag des Erzbistums München und Freising hat sich die Kanzlei mit sexuellem Missbrauch in der Katholischen Kirche beschäftigt. Auf knapp 1.900 Seiten wird offengelegt, wie mindestens 497 Menschen Opfer sexualisierter Gewalt wurden und dass Missbrauch über Jahre systematisch vertuscht wurde. Wird man sich jetzt auch in Südtirol an die längst überfällige Aufarbeitungsarbeit machen?

Robert Hochgruber erwartet sich nicht nur einen offenen und ehrlichen Umgang mit dem Thema – sondern auch, dass die Diözese Bozen-Brixen den Opfern finanziell beisteht. Der Theologe, langjährige Religionslehrer und kritische Christ sagt: “Das würde ein reinigendes Gewitter bedeuten, was letztlich sich für alle positiv auswirken dürfte.”

salto.bz: Herr Hochgruber, waren Sie vom Umfang und den Ergebnissen der Studie überrascht?

Robert Hochgruber: Nein, die Ergebnisse des Gutachtens haben mich nicht überrascht, auch der Umfang der schrecklichen Taten nicht. Vermutlich gibt es eine noch viel größere Dunkelziffer. Ich bin sehr froh, dass das Gutachten von der Kirchenleitung in Auftrag gegeben und veröffentlicht wurde. Das ist leider nicht immer der Fall, wäre aber für eine umfassende Aufarbeitung überall notwendig. 

Auch dem ehemaligen Papst Benedikt XVI. wird Fehlverhalten angelastet.

Es ist ebenso nicht überraschend, dass auch der emeritierte Papst als damaliger Erzbischof ein Fehlverhalten an den Tag gelegt hat. Leider muss ich sagen, dass diese Art des Umgangs mit Missbrauch damals weitgehend üblich war, auch in unserer Diözese. Dass Joseph Ratzinger versucht, Ausreden zu finden und seine Schuld und Verantwortung nicht eingestehen will, bestürzt mich. Ihm ging es damals und wohl auch heute vor allem um das Ansehen des Priesters und der Institution und nicht um das Leid der Opfer, auch wenn er etwas anderes sagt.

In der Stellungnahme zu einem Fall gibt Joseph Ratzinger an, dass “die Behauptung falsch sei, dass die nach gesamtkirchlichem Recht geforderten Maßnahmen unterblieben seien, da der Priester ausschließlich sexuelle Handlungen ‘vor’ und nicht ‘mit’ anderen Personen vorgenommen habe, was zwar nichts an der Sündhaftigkeit und der moralischen Verwerflichkeit dieser Handlungen und dem dadurch erfolgenden schwer sündhaften Verstoß gegen das sechste Gebot ändere, sie jedoch von der einschlägigen kirchlichen Strafnorm nicht umfasst und daher kirchenrechtlich nicht strafbar seien und erst seit dem Jahr 2020 geklärt sei, dass auch exhibitionistische Handlungen unter den Begriff der Sünde fallen können”. Zusammengefasst: Wenn sich ein Täter vor einem Minderjährigen entblößt, selbst befriedigt oder pornografische Inhalte zeigt, sei das kein sexueller Missbrauch im engeren Sinne. Was ist davon zu halten, dass ein ehemaliger Papst hier neu definieren will, was Missbrauch ist und was nicht, wie der Sprecher des Betroffenenbeirates der Deutschen Bischoffskonferenz Johannes Norpoth kritisiert? 

Diese Äußerung von Joseph Ratzinger – verzeihen Sie mir – ist einfach nur lächerlich und wirklichkeitsfremd. Kirchenrechtlich trifft das ja zu, aber schon damals und geschweige denn heute ist so eine Aussage völlig fehl am Platz und wirft ein bezeichnendes Licht auf das Kirchenrecht.

Ich vermute, dass eine solche Studie für Südtirol dasselbe hervorbringen würde, wie in anderen Diözesen auch

In Südtirol wurden seit Schaffung der diözesanen Ombudsstelle für innerkirchlichen Missbrauch im Jahr 2010 über 100 Fälle von sexuellem Missbrauch gemeldet. Der Leiter des 2018 eingerichteten Dienstes für den Schutz von Minderjährigen und schutzbedürftigen Personen Gottfried Ugolini sagt in einem Interview mit dem Alto Adige vorigen Samstag, dass es “weit mehr” als die 100 bisher gemeldeten Fälle gibt. Sind Ihnen selbst Fälle bekannt?

Die Anzahl der gemeldeten Fälle für Südtirol sind hoch, ebenso wohl auch die Dunkelziffer. Mir sind verschiedene Fälle bekannt, die nicht so schwer zu wiegen scheinen – für die Opfer schon. Diese Fälle geben die Situation von damals gut wieder. Eine junge Grundschullehrerin wurde von ihren Kolleginnen darauf aufmerksam gemacht, dass sie während der Religionsstunde des Kooperators in der Klasse bleiben müsse. Sonst könnte etwas passieren. Eine Frau erzählte, dass ein Pfarrer sich ihr gegenüber als junges Mädchen ungebührlich verhalten hatte. Sie berichtete dies ihrem Vater. Er ging zum Bischof und der Pfarrer wurde daraufhin versetzt. Leider haben die Eltern ihren Kindern oft nicht geglaubt. Lehrpersonen einer Grundschule wiesen Vertreter der Bischöflichen Kurie darauf hin, dass der Pfarrer sich den Kindern gegenüber sexuell aufreizend verhalten würde. Die Lehrpersonen wurden daraufhin vorgeladen, bedrängt, dass man so etwas von einem Priester nicht sagen sollte. Schließlich gaben die Lehrpersonen auf, auch weil die Eltern sie nicht unterstützten. Väter verboten ihren Söhnen als Ministranten bei diesem Pfarrer tätig zu sein, weil sie selber bereits Übergriffe erlebt hatten. Der Fall eines Bozner Kooperators, der in den 1990er Jahren vor Gericht stand, aber wegen Verjährung nicht verurteilt wurde sowie der eines Brixner Theologieprofessors, der kinderpornographisches Material besaß, dürfte allgemein bekannt sein. Es geht hier nicht um voyeuristische Darstellungen, sondern um das Aufzeigen von damals öfters stattgefundenen Verhaltensweisen.

Wissen Sie von Fällen, in denen Taten zur Anzeige gebracht wurden?

Nur in den zwei letzte Fällen wurden die Taten zur Anzeige gebracht.

Wissen Sie, wie in Südtirol mit betroffenen Kirchenvertretern gegebenenfalls verfahren worden ist?

Leider hat die Kirchenleitung in früheren Zeiten die Priester einfach versetzt. Mir ist nicht bekannt, dass sie sich einer Therapie unterziehen mussten. In den beiden vorhin genannten schwerwiegenden Fällen wurden die Priester teils in eine andere Diözese versetzt, teils einige Zeit zum Schweigen verurteilt. Heute sind beide erneut in der Seelsorge tätig.

In der heutigen Organisation von Kirche werden diese Verbrechen begünstigt

Warum fällt es Opfern von sexuellen Übergriffen durch Kleriker schwer, sich anzuvertrauen? Was hindert Eltern oder andere Vertrauenspersonen daran, solche Straftaten anzuzeigen, wenn sie davon Kenntnis haben (sollten)?

Warum es Opfer von sexuellen Übergriffen schwer fällt, sich anzuvertrauen und Gerechtigkeit einzufordern, dürfte sehr komplex sein. Die Täter reden den Opfern meist ein, sie seien selbst schuld. Dazu gesellen sich allgemeine Schuldgefühle und Ängste, dass ihnen nicht geglaubt wird. Vermutlich wurde teilweise zu Hause mit dem Thema Sexualität nicht offen umgegangen. Auch Minderwertigkeitsgefühle werden den Opfern oft eingeredet. Im Kirchlichen Kontext wog es damals besonders schwer, dass es sich um einen Priester handelte. Er stellte eine unantastbare Autorität dar und die Kirchenleitung betonte dies auch deutlich.

Was brauchen, wollen die Opfer? Was steht ihnen zu?

Was die Opfer wollen und brauchen, sollten sie selber sagen, auch was an Finanzhilfen – ich sage bewusst nicht Entschädigung, denn eine solche Tat kann nicht entschädigt werden – und Therapien nötig ist. Grundsätzlich ist eine Enttabuisierung solcher Taten notwendig, ein offener Umgang, das heißt, man soll den Opfern glauben. Gerechtigkeit und die Bereitschaft zur Wiedergutmachung sind selbstverständlich. Die Kirchenleitung sollte die Schuld eingestehen, des Einzelnen wie der Institution und die Verantwortung übernehmen.

In vielen Fällen aus der Vergangenheit leben die Täter nicht mehr oder ist die Straftat verjährt. Wie können die Opfer dennoch Gerechtigkeit erfahren? 

Die Ombudsstelle der Diözese war eine sehr wichtige Einrichtung und ein Schritt dahingehend, dass die Opfer über das, was ihnen widerfahren ist, reden konnten, Hilfen in Form von Therapien bekamen, als Opfer anerkannt wurden. Dadurch konnte wohl viel an Heilung geschehen, auch um zu verhindern, dass so etwas nochmals vorkommt. Ich bin überzeugt, dass die Diözese auch Finanzhilfen leisten sollte, um ihre Verantwortung auch für verstorbene Priester bzw. den Umgang der Institution in solchen Fällen zu übernehmen.

Die Ergebnisse des Gutachtens haben mich nicht überrascht, auch der Umfang der schrecklichen Taten nicht

Am 18. November 2021 wurde auf einer Tagung der Diözese Bozen-Brixen mit dem Titel “Mut zur Aufarbeitung” eine Studie angekündigt, die sich mit sexueller Gewalt und Missbrauch in der Katholischen Kirche in Südtirol beschäftigen sollte. Das Konzept dafür wurde ausgearbeitet, die Studie selbst aber nie angegangen. Weil zu aufwändig und zu teuer, so die Begründung von Bischof Ivo Muser. Präventionsarbeit sei wichtiger als diese Studie. Hier entsteht der Eindruck der Vertuschung – das kann doch nicht im Sinne der Kirche sein, oder?

Natürlich kann es nicht im Sinne der Kirche sein, hier etwas zu vertuschen. Langfristig würde die Kirche nur gewinnen, wenn sie ehrlich und offen ihre Fehler eingestehen würde.

Kann Prävention wirklich gelingen, wenn die Aufarbeitung fehlt?

Expertinnen und Experten sagen übereinstimmend, dass Prävention ohne umfassende Aufarbeitung nur Kosmetik ist. Sie ist zwar kurzfristig notwendig und sinnvoll, langfristig kommt man um eine ernsthafte Aufarbeitung, die alle Facetten der Institution und ihrer Schwächen umfasst, nicht herum. 

Weshalb verwehrt man dann diese Studie?

Ich habe den Eindruck, dass sich die Diözesanleitung noch nicht ihrer Verantwortung stellen will, dass die Frage der Kosten bei der Studie nicht ausschlaggebend ist. Ich vermute, dass es auch Angst vor der Wahrheit gibt. Aber die Wahrheit macht euch frei, steht schon im Neuen Testament.

Was könnte eine solche Studie für Südtirol hervorbringen und auslösen?

Ich vermute, dass eine solche Studie für Südtirol dasselbe hervorbringen würde, wie in anderen Diözesen auch. Auslösen könnte sie, dass deutlich wird, dass Bischöfe auch bei uns schuldig geworden sind, dass die heilige Kirche, wie in der Eucharistie gebetet wird, durch ihre Vertreter wie durch die Institution auch sündhaft und schuldig werden kann – wie wir alle auch. Das würde ein reinigendes Gewitter bedeuten, was letztlich sich für alle positiv auswirken dürfte.

Derzeit gibt es sehr viel Scheinheiligkeit in der Kirche, in vielen Bereichen

Gehen Sie davon aus, dass diese Studie begraben bleibt?

Ich habe heute (Montag, Anm.d.Red.) erfahren, dass die Diözese in nächster Zeit darüber entscheiden will, ob die Studie durchgeführt wird oder nicht. Das ist ein Zeichen des Einlenkens. Der Bischof ist unter Druck, dass hier etwas geschieht.

Vor allem angesichts der jüngsten Entwicklungen. 

Wohl nur wegen dieser Entwicklungen. Bleibt aber die Frage, ob die Studie nicht in einer Art und Weise gemacht wird, die letzten Endes nicht viel bringt. 

Was braucht es, um eine solche Studie mit der größtmöglichen Unabhängigkeit durchzuführen?

Eine kleine Gewähr für die Unabhängigkeit ist die Mitarbeit der Freien Universität Bozen mit Professor Heiner Keupp und Professorin Ulrike Loch. Insgesamt gesehen bin ich etwas skeptisch. Natürlich ist es unabdingbar, dass Gottfried Ugolini im Fachbeirat mitgewirkt hat, da er zu dieser Thematik konsequent und klar arbeitet. Ideal wäre, wenn sich, wie in München, zusätzlich auch eine Anwaltskanzlei der Sache annehmen würde.

Ich habe den Eindruck, dass sich die Diözesanleitung noch nicht ihrer Verantwortung stellen will und vermute, dass es Angst vor der Wahrheit gibt

Wenn die Kirche die Aufarbeitung nicht ernsthaft angeht und das Strafrecht nicht mehr greift, müsse die Politik bzw. der Staat übernehmen – auch, um zu zeigen, dass “die Kirche keine Sonderwelt” sei. Das fordern in Deutschland sogar hohe Kirchenvertreter, etwa der Würzburger Bischof Franz Jung, der eine staatlich eingesetzte Wahrheitskommission vorschlägt. Nehmen Sie in Südtirol ein Interesse vonseiten der Politik wahr, sich dieses Themas anzunehmen? 

Ich habe den Eindruck, dass die politischen Vertreterinnen und Vertreter bedauerlicherweise kein Interesse haben, sich dieses Themas anzunehmen. Ich fände eine Wahrheitskommission angebracht und notwendig, wenn die Diözesanleitung nicht die nötigen Schritte unternimmt. Es ist selbstverständlich, dass die Kirche keine Sonderwelt darstellen darf.

Welche Gefahr besteht, wenn Opfern das Gefühl gegeben wird, nicht ernst genommen zu werden bzw. die eigentlichen Täter zu sein, die daran Schuld sind, dass die Institution Kirche und deren Vertreter, die ja oft eine sozial angesehene Stellung in der Gemeinschaft haben, in einem äußerst zweifelhaften Licht dastehen?

Dabei ist die Gefahr, dass es zu einer erneuten Traumatisierung kommt. Das ist sehr schlimm und ein erneutes Verbrechen. Die Kirchenleitung hütet sich derzeit weitgehend davor. Opfer brauchen zudem Solidarität von ihresgleichen, sei es in einer Organisation, sei es von Angehörigen und Freundinnen und Freunden.

Gibt es in Südtirol so etwas wie einen Betroffenenverband?

Mir ist es wichtig, dass sich Betroffene organisieren würden. Aber die Initiative muss von ihnen selbst ausgehen.

Expertinnen und Experten sagen übereinstimmend, dass Prävention ohne umfassende Aufarbeitung nur Kosmetik ist

Was kann die Kirche gewinnen, wenn sie offen, ehrlich, konsequent und transparent die Aufklärung und Aufarbeitung von sexuellem Missbrauch in den eigenen Reihen angeht?

Die Kirche würde glaubwürdig werden. Sie hat ihre Glaubwürdigkeit zu einem großen Teil verspielt. Außerdem würde die Kirche für sich auch ehrlicher werden. Derzeit gibt es sehr viel Scheinheiligkeit in der Kirche, nicht nur in diesem Bereich. Etwa auch in Bezug auf Homosexualität. Wenn ich ehrlich sein darf: Ich kenne eine Reihe von Priestern, die homosexuell sind und das nicht offen leben dürfen. Ich kenne sehr viele Priester – etwa die Hälfte –, die in einer Beziehung leben und auch Kinder haben. Hier würde es klar zu einem Abbau der Scheinheiligkeit kommen und natürlich auch zu einer vermutlich notwendigen Reform.

Welche Reformen braucht die Kirche zusätzlich zur Aufarbeitung, um Missbrauch von Kindern entgegenzuwirken bzw. zu verhindern? Im WSW-Gutachten werden unter anderem “kritische Reflexion des priesterlichen Selbstverständnisses” und “Stärkung der Rolle der Frau in kirchlichen Leitungsfunktionen” als Handlungsfelder angeführt.

Der sexuelle Missbrauch in der Katholischen Kirche ist ein systemisches Defizit, ein Versagen der Institution als solcher. In der heutigen Organisation von Kirche werden diese Verbrechen begünstigt. Die Katholische Kirche hat eine schwere Hypothek durch den Pflichtzölibat und die negative Bewertung der Sexualität über die Jahrhunderte. Zudem besteht eine Überhöhung des Priesters, die in keiner Weise gerechtfertigt ist, ein Klerikalismus, der den Priestern, Bischöfen und Päpsten so etwas wie die absolute Macht zuspricht. Auch die Kirche als Institution wird zu wichtig angesehen. Während des Theologiestudiums haben wir scherzhaft gesagt: Jesus verkündete das Reich Gottes, gekommen ist die Kirche. Zudem ist die Aufwertung und Gleichberechtigung der Frau in Leitungspositionen und Ämtern dringend erforderlich. Ich bin überzeugt, das Frauen gerade auch in Missbrauchsfragen meist ein besseres Gespür als Männer haben. Die Reformen werden in der Kirche kommen, davon bin ich überzeugt. Der Geist Gottes wirkt auf vielerlei Art.