Gesellschaft | Erderwärmung

Prometheus

Auch ich stehe dem Gemäßigten näher, als dem fanatischen Kämpfer. Aber dass es etwas zu sagen gibt, dass es gesagt werden muss, das ist nicht zu leugnen.
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Foto: Gasser Peter

„Drei Grad? Ist das nicht ein arg unrealistisches Szenario, schließlich hat sich die Weltgemeinschaft doch im Pariser Abkommen darauf verständigt, die Erderwärmung auf 2 Grad zu begrenzen, möglichst sogar auf 1,5 Grad. Nein, aus heutiger Sicht ist es keinesfalls unrealistisch - es ist genau die Marke, auf die wir gerade zusteuern“, sagt die Klimawissenschaftlerin, Physikerin und Philosophin Friederike Otto in ihrem kürzlich erschienen Buch „Wütendes Wetter“. Und: „2018 hat die Welt so viele Treibhausgase ausgestoßen wie nie zuvor“.

Weltweit ist ein Kohleausstieg überhaupt nicht in Sicht. Die 120 größten Kohlekonzerne haben aktuell knapp 1.400 neue Kraftwerke in 59 Ländern in Planung oder sogar schon im Bau. Das entspricht einem Drittel der aktuell installierten Kapazitäten.

Am Ende des Buches „Wütendes Wetter“ heisst es: „Das Gerüst der Zahlen sichert ab und trägt, wann immer interessierte Kreise ihre in Umlauf bringen, wenn Politiker versuchen, die Folgen der Umweltverschmutzung kleinzureden, oder Klimaaktivisten ein Weltuntergangsszenario an die Wand malen. Mit fundierten Zahlen ist es möglich, die tatsächlichen Schuldigen zu benennen und Versuche zu enttarnen, unangenehme Tatsachen zu verschleiern oder gar zu leugnen... Die Folgen des Klimawandels sind weder eine Erfindung noch bedeuten sie den Weltuntergang, dem wir ohnmächtig ausgeliefert sind“.

Der Klimaforscher Jochem Marotzke, Direktor am Max-Planck-Institut für Meteorologie in Hamburg und einer der Leitautoren des letzten Sachstandsberichts des Weltklimarats IPCC, sagte letzthin (Oktober 2018): „Das ist eine wirklich spannende Frage, die in der Fachwelt seit etwa einem Jahr für helle Aufregung und heftige Diskussionen sorgt. Denn nach den neuesten Klimaszenarien ist die CO2-Menge, die wir noch freisetzen können, weitaus größer als bisher angenommen – eine fundamentale Erkenntnis. Wir haben dazugelernt – so funktioniert Wissenschaft“. Und weiter: „Alle Zielmarken für die Temperaturerhöhung sind willkürlich. Weder sind wir bei 1,5 Grad auf der sicheren Seite, noch kommt es bei 2 Grad plötzlich zu gefährlichen Wetterereignissen, die nicht auch heute schon auftreten können. Es ist sicher nicht so, dass bei 1,5 Grad alles in Ordnung wäre und bei 2 Grad alles katastrophal“.

"Zum geisteswissenschaftlichen Kernbestand und Zielpunkt von Fragestellungen gehört die Praxis der Kritik und des kritischen Denkens", so die Medienwissenschaftlerin Birgit Schneider in ihrem Buch "Klimabilder". Müssen wir uns wirklich mit Albert Einstein darauf einstellen, dass Probleme „niemals mit der gleichen Denkweise“ gelöst werden können, „durch die sie entstanden sind“? Ist ein Innehalten sinnvoll, um im Sinne eines kritischen Denkens vordergründige Ordnungen, Selbstverständlichkeiten, Konventionen und herrschende Diskurse anders zu denken? Ist anders eine - notwendige? - Veränderung der Gegenwart nicht zu erreichen? Naturwissenschaftliche Methoden sind ein Weg zu Fakten, es erfordert KRITISCHES DENKEN, um von diesen Fakten zu den Fragen der Gesellschaft, der Moral und der Politik zu gelangen.

Müssen erneut herrschende Ordnungen entlarvt und vernachlässigte Themen in den Vordergrund gebracht werden? Muss eine neue Praxis aufgezeigt werden - die aber nur im interdisziplinären und interkulturellen Dialog entstehen kann, keinesfalls in einem Klima der Anarchie und des Chaos?

Wie gehen wir mit der Gewissheit um, dass der Lebensstil der Menschen in den Industrienationen die Existenzbedingungen der Menschen auf dieser Erde verändert? Sind in einem ökologischen Naturverständnis menschliche Einflüsse in die Ökologie des Organismus Erde („Gaia“) überhaupt vertretbar, oder ist diese absolute Sichtweise begründet in einem unauflösbaren Gegensatz von Natur und Kultur?

„Das ist unser Trauma“, sagt der Soziologe und Philosoph Bruno Latour, „anders als in der klassischen politischen Situation sind wir nicht mehr in Resonanz mit der Welt. Nun ist die Erde zum ersten Mal buchstäblich in unserer Politik gegenwärtig, UND WIR SIND DAFÜR NICHT GERÜSTET“. 

"Wo werden Fakten, wo reflexhafte Narrative zum gegenwärtigen Gegenstand des Klimawandels erzeugt, die im Spannungsfeld von Wissenschaft und Politik publik werden? Welche Bilder können am besten die Vielschichtigkeit, die Heterogenität, die Paradoxien sowie die unterschiedlichen Wahrheits- und Erkenntnisansprüche der Klimaforschung ans Licht bringen?", so fragt Birgit Schneider weiter. "In der außerwissenschaftlichen Öffentlichkeit werden von Klimaleugnern und von Weltuntergangsszenarien (brennende Welten) Zweifel gesät: bei Versuchen der politischen Einflussnahme vermischen sich Methoden der Public Relations wie Vereinfachung, Manipulation und die Rhetorik der Evidenz auf undurchsichtige Weise".

Wird im Laufe des 21. Jahrhunderts etwas geschehen, wird in den kommenden Jahrzehnten etwas Neues aufgebaut werden? Können wir in der Post-Truth-Ära stets gut genug die Fakten von „alternativen Fakten“ trennen, in einer Zeit, in der uns weder religiösen Dogmen leiten noch Könige uns vorschreiben, was wir zu tun haben?

"ZUNÄCHST ALSO DIE WELT und DANN ERST DER MENSCH? Bedenken wir, dass der Mensch zur Selbstsucht neigt", sagt die Philosophin Martha Nussbaum. Dürfen wir dabei emotional werden? Oder laufen wir Gefahr, dass sich andere - mit weniger guten Absichten - der Emotionen bedienen, wenn wir diese links liegen lassen, und sie mit schlechten Werten verbinden? "Dann werden diese schlechten Ideen den Sieg davontragen", sagt die Philosophin weiter.

„Politik ist eine Art pazifistischer Konflikt“, sagt der Philosoph Jacques Ranciére, „Politik sei der ständige Kampf darum, vom Privatbereich in den sichtbaren öffentlichen Bereich zu gelangen“; Macht schafft einen Protestraum, und: „die Aufgabe des Konflikts besteht darin, diese Macht sichtbar zu machen“; die „Politik spielt sich im Hier und Jetzt ab“, und, letztendlich: „Man zwingt die wirkliche Macht dazu, sich zu zeigen, zu reagieren".

Bruno Latour dazu: „Menschen zu sensibilisieren, sie für Veränderungen feinfühliger zu machen, gelingt in erster Linie durch die Wissenschaft. Doch das genügt nicht. Auch die Kunst ist dazu nötig, denn das ist dann nicht nur eine Frage der Vernunft.“ Abschliessend: „Wir leben zum ersten Mal in einer Zeit, in der die Geschichte von Noah eine reale Not zum Ausdruck bringt“. Und: „Gaia war in der klassischen Mythologie die Urmutter, das Sinnbild der Erde, Gaia symbolisiert die Erdschicht, auf der wir leben, die kritischen Zonen, wie manche Wissenschaftler sagen“. Der Prometheus-Mythos beschreibt den HOCHMUT des Menschen.

Der große deutsche Denker Peter Sloterdijk bringt es auf den Punkt: „Das erste, was die Menschen in der aufstrebenden Welt - in Brasilien, China, in Indien - wirklich wollen, sind die Privilegien, die Amerikaner und Europäer schon länger besitzen: Sie wollen reisen, Unterhaltung, Konsum... das ist in etwa die Liste dessen, was weltweit eingefordert wird. Im 21. Jahrhundert wird diese Gruppe um eine Milliarde Menschen anwachsen. Das bekommt dem Planeten natürlich nicht“.

Auch ich stehe dem Gemäßigten näher, als dem fanatischen Kämpfer. Aber dass es etwas zu sagen gibt, dass es gesagt werden muss, das ist nicht zu leugnen.