Kultur | Gespräch

„Wir sind nicht nur in unserer Heimat“

Der künstlerische Leiter des Bozner Filmfestivals Vincenzo Bugno sorgte erneut für ein anspruchsvolles Festival. Ein Nachgespräch inkl. Filmtipps zum Feiertag.
Bugno
Foto: BFFB
  • SALTO: Wie haben Sie Tag Eins nach dem Bozner Filmfestival 2024 verbracht? 

    Vincenzo Bugno: Am Sonntag war ich ja noch im Dienst, da musste ich noch einige Filme vorstellen. Am Montag habe ich dann zum ersten Mal seit einiger Zeit frei gehabt. Ich war morgens joggen, entlang der Talfer. Dann war ich in einem kleinen biologischen Restaurant essen, am Nachmittag war ich spazieren – danach bin ich eingeschlafen. Aber ich habe an diesem Tag auch viele Dinge entdeckt und vor allem die Stadt wahrgenommen. Das fand ich gut.

    Wenn Sie nun – nach den Anstrengungen beim Festival – einen Relax-Tag eingelegt haben, was geht Ihnen so rückblickend durch den Kopf? Erfreuliches? 

    Naja gut, es gibt immer irgendwelche Problemchen. Ich neige auch sehr zu Selbstkritik, was gut sein kann – manchmal auch nicht. Die letzten Monate waren jedenfalls sehr intensiv, auch weil ich nicht nur für das Festival in Bozen arbeite, sondern auch anderen Tätigkeiten nachgehe. 
     

    Für mich bedeutet Schönheit, sich mit Dingen auseinandersetzen und dafür anspruchsvolle Filmsprachen zu finden.


    Bei der Eröffnung gab es den etwas oberflächlichen Sager eines Lokalpolitikers, Kino sei eine Schönheitsindustrie. Was ging Ihnen bzgl. dieser platten Sichtweise durch den Kopf?

    Mit dem Begriff bellezza kann man sich durchaus auseinandersetzen, aber ich glaube nicht, dass Kultur nur mit Schönheit zu tun hat, im Gegenteil. Es gibt auch von der künstlerischen Ebene aus betrachtet, die Schönheit anspruchsvoller Filme. Schönheit bedeutet in diesem Fall nicht hübsch sein, sondern auch wehtun oder eben anspruchsvoll. Es geht dabei um die Filmsprache, sonst könnten wir ja was anderes tun, zum Beispiel Bücher schreiben – was auch nicht schlecht ist. Für mich bedeutet Schönheit, sich mit Dingen auseinandersetzen und dafür anspruchsvolle Filmsprachen zu finden.

  • Vincenzo Bugno: Nach seinem Abschluss arbeitete er als Filmjournalist/Kritiker für italienische und andere europäische Zeitungen. In den folgenden Jahren weitete er diese Tätigkeit aus, unter anderem in Zusammenarbeit mit dem „Corriere della Sera“ und „Il Manifesto“. Als Autor und Regisseur zahlreicher Reportagen und Dokumentarfilme über das Kino sowie über zeitgenössische Kunst, Architektur, Literatur und Musik hat er für Sender wie „Arte“ (D/F), „ZDF“ (D), „Tele+“ und „Sky Italia“ (I) gearbeitet. Im Laufe der Jahre hat er seine Tätigkeit als Berater/Kurator für verschiedene Filmfestivals intensiviert. Das BFFB in Bozen leitete er 2024 zum zweiten Mal. Foto: BFFB

    Einer der Wegbereiter für Ihre persönliche Kinoleidenschaft war in jungen Jahren der 2014 verstorbene Produzent Karl „Baumi“ Baumgartner. Bei der 37. Ausgabe des BFFB gab es eine Hommage. Warum war Baumi für Sie ein besonderer Mensch?

    Ich habe Baumi vor vielen Jahren kennengelernt und ich habe ihn immer bewundert, weil er erstens Filme und Filmemacherinnen unterstützt hat, die weltweit bedeutend waren und bedeutend sind – und da denke ich an die Größen des europäischen, aber auch des internationalen Kinos, wie Kaurismäki, Jarmusch und Kusturica, um die banalsten Beispiele zu nennen. Das Ganze hat er mit enormer Leidenschaft, Hingabe und – was die eigene Person anbelangt – Zurückhaltung gemacht. Es ging ihm immer um die Sache und er war immer sympathisch und freundlich. Er hat sich mit Filmkulturen auseinandergesetzt, die weit außerhalb unseres Horizonts liegen: in Zentralasien oder noch weiter. Das hat mich schon sehr beeindruckt und es hat tatsächlich meine berufliche Entwicklung beeinflusst. Auch was meine Beziehung zu den Bergen angeht.

    Inwiefern?

    Ich komme ja aus Venedig, habe Sommer wie Winter jede Menge Zeit mit meinen Eltern in den Bergen verbracht – auch wenn ich das damals nicht hundertprozentig geschätzt habe. Die meisten Venezianer und Venezianerinnen haben ja eigentlich eine sehr enge Beziehung zu der Bergwelt, ich fand das – ehrlich gesagt – damals ein bisschen langweilig. Aber dann, irgendwann als erwachsener Mann, habe ich das wiederentdeckt und auch mit Baumi darüber gesprochen. Er meinte: Es ist schon schön bei uns. Baumi hatte eine sehr enge Beziehung mit der Heimat, war aber trotzdem sehr offen, im Sinne: Klar, es gibt Grenzen und Berge, aber hinter ihnen gibt es jede Menge zu entdecken, zu lernen und zu schätzen. Wir sind nicht nur in unserer Heimat.
     

    Ich denke, wir haben einige Entscheidungen getroffen, die richtig waren.


    Die diesjährige Ausgabe war Ihre 2. als künstlerischer Leiter des Festivals. Bei Regiearbeiten heißt es gelegentlich, dass der „zweite Film“ der Schwierigere ist. Wie war es zum zweiten Mal Regie beim BFFB zu führen?

    Ja, beim zweiten Film muss man immer ein bisschen aufpassen und nicht wenige Regisseure und Regisseurinnen sind baden gegangen. Aber manchmal klappt es auch. Das erste Jahr, war eindeutig ein Übergang, eine Transition gewesen. Im aktuellen Fall würde ich von einer Weiterentwicklung sprechen, obwohl wir uns immer noch in einer Transition befinden. Ich denke, wir haben einige Entscheidungen getroffen, die richtig waren. Zum Beispiel die zeitliche Ausdehnung des Festivals, um für die Zuschauer mehr Platz zu bieten, für Filme, aber auch für mehr Zeit im Kino. 

    Wie wurde das Festival in diesem Jahr angenommen?

    Bozen ist kulturell eine sehr lebendige Stadt, aber trotzdem haben wir keine Bewohnerzahl von 3,5 Millionen wie in Berlin. In Bozen leben 100.000 Menschen, das heißt, damit muss man sich auseinandersetzen und ich glaube, dass die Auseinandersetzung mit diesen 100.000 Menschen sich positiv weiterentwickelt hat. Ich bin aber nach wie vor der Meinung, dass es noch Potenzial gibt, dass das Festival, ein Festival für die ganze Stadt sein sollte. Damit muss man sich in der Zukunft sicher befassen.

  • Foto: BFFB

    Spielfilm, Dokumentarfilm, Animationsfilm sind erneut in einem Wettbewerb gelaufen. Ist diese „gerechte“ Ausgangsposition für alle Genres auch wirklich eine „gerechte“? 

    Es geht um Kino und die sehr unterschiedlichen Filmsprachen. Das ist mittlerweile ganz normal, dass unterschiedliche Filmsprachen im Wettbewerb eingeladen werden. Die starke Trennung zwischen Fiktion und Dokumentarfilm ist vielleicht noch im Mainstream vorhanden. Was ist eigentlich Dokumentarfilm? Ist es die richtige Auseinandersetzung mit der Realität? Nein, denn sobald wir beim Schnitt sind, treffen wir subjektive Entscheidungen, die tatsächlich auch die Auseinandersetzung mit der Realität beeinflussen. Deswegen finde ich auch, man muss zunehmend von dokumentarischen Formen sprechen und nicht von Dokumentarfilm und Fiction. Wir sehen zunehmend, dass großartige Autoren und Regisseurinnen sich auf diesem Gebiet bewegen – mit fantastischen Ergebnissen.
     

    Und das ist eigentlich das, was ich im Lauf der letzten Tage so toll fand, dass ich das Gefühl habe, dass da gerade etwas klappt.


    Im vergangenen Jahr gab es mit Galicien ein interessantes Gastland beim Festival, wo mehrere Regisseure und Regisseurinnen einer Minderheitenregion eine gemeinsame Erzählart gefunden haben. In neueren Südtiroler Produktionen finden sich vermehrt tourismuskritische Spuren. Ein naheliegendes Markenzeichen?

    Wann wir vom galizischen Kino sprechen, sprechen wir auch von einer bestimmten Ästhetik, daraus hat sich eine eigene künstlerische Haltung entwickelt, die die Natur dieser Region einfängt. Die Menschen dort entsprechen nicht unbedingt dem Klischee Spaniens, sie sind zurückhaltend, ein bisschen kantig, trotzdem aber sehr herzlich. Ich glaube, in Galizien hat die Sprache, die Natur, die Umgebung eindeutig den Film beeinflusst. Wenn wir nach Südtirol blicken, dann ist selbstverständlich Tourismus ein Thema, das ist nicht zu übersehen. Aber das ist Inhalt. Im Moment habe ich nicht das Gefühl, dass es sozusagen eine Art von einheitlicher Filmsprache gibt. Das muss auch nicht sein. Vielfalt ist gut, oder sogar besser. Ich freue mich sehr, dass wir 2024 einen Schwerpunkt zum brasilianischen, indigenen Kino gemacht haben, auch um zu sehen, wie das Publikum reagiert. Ich glaube – und das sage ich immer wieder –, das Publikum darf nicht unterschätzt werden. Unsere Welt ist ziemlich groß und damit muss man sich befassen. Das Thema Grenzen, Minderheiten, Sprachen ist beim Schwerpunkt Brasilien absolut vorhanden und zwar noch radikaler – denn diese Minderheiten waren nicht Minderheiten, die Sprachen dort waren auch nicht „kleine“ Sprachen. Das Ganze hat mit Kolonialgeschichte zu tun, mit der politischen Lage in Brasilien. Ein fantastisches Thema. 

    Sie sagen, das Publikum darf man nicht unterschätzen. Mainstream-Produktionen bieten seit Jahren fast nur noch leichte Kost, um möglichst viel Publikum zu generieren. Sie sagen, das muss man nicht?

    Nein, das muss man nicht. Ich glaube auch, dass Festivals eine andere Funktion haben sollten, und zwar nicht unbedingt Dinge zu programmieren, die sonst überall zu sehen sind. Außerdem sind Festivals Orte, wo man sich mit anderen Menschen wohl fühlen sollte. Und das ist eigentlich das, was ich im Lauf der letzten Tage so toll fand, dass ich das Gefühl habe, dass da gerade etwas klappt. Ich habe tatsächlich das Gefühl gehabt, es gibt Menschen, die ins Kino kommen und sich freuen. 

    Eine letzte Frage: Welche Rolle spielt der 25. April bei Vincenzo Bugno? Wie wird er von Ihnen – zurück in Berlin – begangen?

    In Berlin passiert da nicht so viel. Aber für mich ist es ein sehr wichtiger Tag, er berührt mich sehr und lässt mich nicht gleichgültig. Und nicht nur, weil ich aus Venedig komme, wo der 25. April als St. Markus-Tag ohnehin ein Feiertag ist.

    Haben Sie vielleicht noch gute Filmtipps, die thematisch zum Tag der Befreiung passen?

    Le quattro giornate di Napoli von Nanni Loy aus dem Jahr 1962, Il generale della Rovere von Roberto Rossellini aus dem Jahr 1959 und Il terrorista von Gianfranco De Bosio aus dem Jahr 1963. E tanti altri.