„Die Welt war dort“

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SALTO: Herr N., meine erste Frage geht an Sie als Lehrperson: Wann fängt für Sie der Sommer an?
N.: Ich habe heuer eine Maturaklasse und bin noch bis in den Juli hinein beschäftigt.
Spielt Ihre Identität als homosexueller Mann im Arbeitsalltag eine Rolle oder ist das etwas Externes?
Ich weiß nicht genau, ob das mit meiner Persönlichkeit zu tun hat. Ich hatte immer ein gutes Verhältnis zu meinen Schülerinnen und Schülern und arbeite seit 30 Jahren mit Jugendlichen zwischen 14 und 18, 19 Jahren. Es ist schwierig zu sagen. Vielleicht hat meine Lebenserfahrung da eine gewisse Bedeutung. Vielleicht ist es für Homosexuelle etwas einfacher, auf sozialer Ebene bestimmte Sachen zu bemerken, aber das ist keine wissenschaftliche Beobachtung und könnte mit meiner Persönlichkeit zu tun haben.
„Ich bin an der Schule seit zwanzig Jahren. Manchmal gibt es auch Fragen, wie sie auch zu einer heterosexuellen Beziehung gestellt werden könnten, etwa wohin mein Partner und ich in den Urlaub fahren.“
Aber spielt Ihre Sexualität insofern eine Rolle, als Sie als schwuler Mann wahrgenommen werden? Ist Ihren Schülern ihre sexuelle Orientierung bekannt?
Es ist so: Meine Schüler wissen es, denke ich, nicht. Meine Arbeitskolleginnen und -kollegen wissen, dass ich in einer gleichgeschlechtlichen Beziehung lebe, sind mir gegenüber aber sehr respektvoll. Ich bin an der Schule seit zwanzig Jahren. Manchmal gibt es auch Fragen, wie sie auch zu einer heterosexuellen Beziehung gestellt werden könnten, etwa wohin mein Partner und ich in den Urlaub fahren. Dazu ist auch zu sagen, dass ich recht „straight-passing“ bin, also eher als heterosexuell wahrgenommen werde, aber ich habe auch nichts Schlechtes hinter meinem Rücken gehört. Die meisten Schülerinnen und Schüler habe ich für zwei, drei Jahre und ich denke, da hat es sich nicht herumgesprochen. Wenn sie es wissen, dann finde ich, sind auch sie sehr, sehr respektvoll mir gegenüber.
Sind Sie froh, dass Ihre Schüler vermutlich nicht um Ihre Sexualität wissen?
Ich bin schon eher froh, dass da nie etwas dazu herausgekommen ist. Es kommt auch zu kleinen Kommentaren. Sie machen Scherze, fragen, ob ich im Urlaub mit Freunden unterwegs bin, etwa. Jugendliche sind in diesen Dingen natürlich schlau, auch wenn sie da immer ganz an der Oberfläche bleiben. Also wenn sie es wissen, dann geben sie mir das Feedback, dass es egal ist, wen ich liebe.„Wenn sie von Ländern hören, in denen Homosexualität unter Todesstrafe steht, dann finden sie das absolut inakzeptabel.“
Und wie ist es mit der Sprache unter den Schülern? Ich bin 32 und kann mich erinnern, dass an der Mittelschule und zum Teil auch im ersten Oberschuljahr noch „schwul“ oder auch „gay“ oft als Schimpfwörter benutzt wurden. Gibt es das noch?
Ich kannte das auch an der Oberschule, vor zehn Jahren so ungefähr. Das war übel. Man verwendete „das ist schwul“ im Sinne, das ist etwas Peinliches oder Schlechtes. Ich habe damals meine Kolleginnen und Kollegen dafür sensibilisiert, sie darauf aufmerksam gemacht, dass das absolut nicht in Ordnung sei, dieser Umgang. Aber es hat auch abgenommen, mit den Jahren. Mittlerweile scheint es fast, dass es das nicht mehr gäbe. Wenn ich bestimmte Themen behandle, zum Beispiel im Sexualunterricht, dann merke ich, dass Schülerinnen und Schüler sehr offen sind. Wenn sie von Ländern hören, in denen Homosexualität unter Todesstrafe steht, dann finden sie das absolut inakzeptabel. Also da ist schon ein höheres Bewusstsein da bei der Jugend, einfach auch für diese Themen.
Würden Sie bestätigen, dass es für queere Themen bei der Jugend auch einfach ein höheres Bewusstsein gibt?
Ja, das auch. Ich sehe auch, dass sich mehr Jugendliche „offenbaren“ oder outen. Einige kennen jemanden, haben Freunde oder Bekannte, die queer sind und das hat sicher auch eine Wirkung. Das hat sich schon gebessert, seit ich vor 30 Jahren nach Südtirol gezogen bin. In den letzten zehn Jahren hat sich, denke ich, am meisten getan, was Akzeptanz anbelangt.
„In Italien sind wir sehr konservativ, zumindest was die Fassade anbelangt. Alles, was sich hinter dieser Fassade abspielt, ist freilich etwas anderes.“
Akzeptanz und Aufklärung erfolgen zu einem guten Teil auch online. Sollte man das ein Stück weit institutionalisieren, um die Qualität der Information zu gewährleisten?
Leider sieht es dafür unter der Regierung Meloni nicht so gut aus. Laut Ministerialdekret müssen alle Eltern über den Inhalt des Sexualunterrichts informiert werden und unterschreiben, um zu bestätigen, dass sie einverstanden sind. Als Lehrer vermuten wir, dass diejenigen die bei diesem Thema Bildung am meisten brauchen auch jene sind, die nicht unterschreiben werden. Das ist eine unglaubliche Situation, die sich hier in Italien anbahnt. Regional kann man sich da bewegen, aber wenn man das Ministerialdekret ansieht, dann sind vielleicht einige Direktoren auch davon eingeschüchtert. Die Jugendlichen brauchen Sexual-Erziehung aus wissenschaftlicher und sozialer Sicht und verdienen sich den Dialog mit Expertinnen und Experten mit der passenden Fortbildung und nicht nur mit dem Lehrer. Schon seit Jahren unterscheiden wir uns darin etwa von Frankreich, Spanien, Deutschland oder England um Welten. In Italien sind wir sehr konservativ, zumindest was die Fassade anbelangt. Alles, was sich hinter dieser Fassade abspielt, ist freilich etwas anderes. Wir sind da sehr scheinheilig und heuchlerisch. -
Welche Gefahr sehen Sie, wenn wir Jugendlichen nicht die Mittel an die Hand geben, um sich selbst zu verstehen?
Das war schon immer ein Problem und ist heute immer noch so. Ich würde das auch nicht unbedingt mit dem Internet in Verbindung bringen. Das ist schon immer ein Problem gewesen. Ich komme aus Süditalien und habe den Eindruck, hier in Südtirol, versteht man diese Dinge später. Das hat mit Lebenserfahrungen zu tun. In Süditalien ist es eher so, dass auch sehr schlechte Erfahrungen, von klein auf schon mit anderen geteilt werden. Das führt schon zu, sagen wir mal, mehr Nähe auch zu anderen, emotionalen Situationen. Dadurch, glaube ich, gibt es eine andere Sensibilität und man schafft es so schneller, bestimmte Sachen zu verstehen.
„Viele haben da auch die Haltung, dass Themen wie Homosexualität nicht auf die Straße oder in die Politik gehören, weil das nach katholischer Ansicht maximal ein privates Thema ist.“
Glauben Sie, das hat mit dem Aufbau von dörflichen Gemeinden in Südtirol zu tun? Im klassischen Dorf, das man sich vorstellt, wird getratscht…
Ich kenne diese Situation nicht, aber ich weiß, dass meine Schüler aus sehr unterschiedlichen Gemeinden kommen, teilweise auch aus den Tälern. Ich denke, es ist im Raum Bozen und im Unterland schon weniger ein Problem. Auch hier im Unterland gibt es kleinere Dörfer aber es ist ein Netz an Dörfchen, aus denen viel gependelt wird. Klar ist das etwas anderes als eine Gemeinde im Obervinschgau, dazu müsste man vielleicht eine soziologische Untersuchung machen. Es gibt auch in Südtirol viele verschiedene Arten von Temperamenten und die Form des Umgangs ist jeweils ein anderer. Viele haben da auch die Haltung, dass Themen wie Homosexualität nicht auf die Straße oder in die Politik gehören, weil das nach katholischer Ansicht maximal ein privates Thema ist. -
Waren Sie am Samstag bei der Pride in Bozen?
Ich musste arbeiten, war aber am Abend beim Fest auf der Talferwiese. Die letzte Pride, die ich gemacht habe, war in Rom, mit riesiger Beteiligung. Damals war Meloni erst seit Kurzem an der Regierung und die LGBTQ+ Gemeinschaft hat sehr stark darauf reagiert. Diese riesigen Straßen, die bis zum Kolosseum durch die Stadt führen, waren dicht gedrängt voll Menschen aus aller Welt. Die Welt war dort. Das war eine besondere Erfahrung, die mich noch einmal mehr beeindruckt hat als in Mailand oder Bologna. Die Pride in Rom ist mir im Herzen geblieben. Es ist sicherlich schön, dass es in Bozen auch eine Pride gegeben hat, Bozen braucht das auch. Der Erfolg spricht für sich. Anfangs hatte ich etwas Angst, dass zu wenige Menschen kommen.
Welche Botschaft ist von der Pride in Bozen - Ihrer Meinung nach - ausgegangen?
Manche Mitglieder der LGBTQ+ Gemeinschaft, insbesondere Homosexuelle, haben da oft unterschiedliche Meinungen, was diese Sachen anbelangt. Es gibt einige, die der Überzeugung sind, dass man sich nur nicht äußern soll und die gegen das „übermäßige zur Schau stellen“ sind… man dürfe nicht anecken oder zu freizügig sein, und so weiter. Manche meinen sogar, dass Transpersonen nicht auf die Pride kommen sollten. Es gibt alle Extreme. Wenn sich aber gewisse Realitäten verstecken, dann wird es noch dunkler um sie. -
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