Wirtschaft | Energierabhängigkeit

Droht Europa ein „kalter“ Winter?

Die stark reduzierten russischen Gaslieferungen könnten in den EU-Ländern im kommenden Winter zu kritischen Engpässen bei der Gasversorgung führen.
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Seit Inkrafttreten der europäischen Sanktionen gegen Russland als Reaktion auf den Krieg gegen die Ukraine sind die russischen Erdgaslieferungen nach Europa deutlich gesunken. Gazprom unterbrach zudem die Belieferung mehrerer europäischer Kunden, weil diese sich weigerten, für das Gas in Rubel zu bezahlen. Zuvor war schon die Jamal-Europa Pipeline nicht mehr befüllt worden und die Durchleitung von russischem Gas durch die Ukraine lag deutlich unter dem Plan. Dann wurden unter Vorgabe verschiedener Gründe, die nicht immer nachvollziehbar waren, die Liefermengen durch die Nordstream-1-Gaspipeline verringert. Durch diese Verknappung von russischem Gas haben sich die Gaspreise stark erhöht. Nach vielen Warnsignalen in den vergangenen Monaten sind Russlands jüngste Schritte, die Gaslieferungen zu drosseln, eine weitere Alarmstufe für die EU.

Die Gas-Krise in Europa hat schon vor der russischen Invasion in die Ukraine begonnen. Im September 2021 – fünf Monate vor Russlands Invasion in der Ukraine – wies die Internationale Energieagentur (IEA) bereits darauf hin, dass weniger russisches Gas ohne ersichtlichen Grund nach Europa geliefert werde, was zu einer Verknappung von Gas und infolge zu einem starken Anstieg der Gaspreise führte. Im Jänner 2022 schlug die IEA erneut Alarm und wies darauf hin, dass Russlands ungerechtfertigte Kürzungen seiner Gas-Lieferungen nach Europa zu einer "künstlicher Verknappung der Märkte" führten und die Preise in die Höhe trieben. Doch die Politiker nahmen die Warnungen nicht ernst genug, erst nach der russischen Invasion in die Ukraine am 24. Februar wurden die Risiken im Zusammenhang mit der russischen Energieversorgung in Europa, vor allem der Gasversorgung, für Europa klar. *

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Seit Monaten beraten die Politiker der EU-Länder, wie sie im kommenden Winter die Gas-Nachfrage decken können. Man ist vor allem bemüht einen möglichst hohen Füllstand der Gasspeicher bis zum Beginn der Heizperiode zu erreichen. Eine hektische Reisediplomatie in mögliche Gaslieferländer, wie zum Beispiel nach Katar, in die Vereinigten Arabischen Emiraten, in die USA oder nach Kanada hat begonnen und hat auch zu einigen konkreten Ergebnissen geführt.

Im Juli sanken die russischen Gaslieferungen auf einen bisherigen Tiefststand, was in den EU-Ländern zu einer erhöhten Alarmstufe führte. Manche Länder, wie zum Beispiel Spanien, haben bereits einen konkreten Notfalls-Plan beschlossen, während die Politiker in anderen Ländern noch verhandeln, welche Maßnahmen ergriffen werden sollen und welche Sparmaßnahmen von der Industrie, den Betrieben und den Privathaushalten eingefordert werden sollen, um die drohende Gas-Krise im kommenden Winter zu bewältigen.

Nachdem die IEA bereits im März 2022 Vorschläge zur Verringerung der Abhängigkeit von russischem Gas  vorgelegt hat, lässt sie jetzt erneut mit Maßnahmen aufhorchen, die den EU-Ländern helfen sollen trotz wesentlich geringerer Gaslieferungen aus Russland einigermaßen unbeschadet über den Winter zu kommen. Koordinierte Maßnahmen in ganz Europa seien unerlässlich, um eine größere Gas-Krise zu verhindern, so die IEA. Der erste Schritt, um die europäischen Gasspeicher vor dem Winter auf ein hohes Niveau zu bringen, besteht darin, den derzeitigen Gasverbrauch in Europa zu senken und das eingesparte Gas einzulagern. Ein Teil davon geschieht bereits aufgrund der extrem hohen Gaspreise, aber mehr Sparmaßnahmen sind erforderlich. Laut IEA sei es noch möglich einen Füllstand von 90% bei den europäischen Gasspeichern zu erreichen, doch ein schnelles Handeln sei jetzt erforderlich.

  • Minimierung des Gasverbrauchs im Stromsektor. Dies kann erreicht werden, indem die Stromerzeugung in mit Kohle- oder Erdöl/Erdölprodukten betriebenen Kraftwerken erhöht und gleichzeitig der Einsatz kohlenstoffarmer Quellen, einschließlich der Kernenergie, beschleunigt wird.
  • Senkung des Strombedarfs im öffentlichen Sektor und in den Haushalten durch Festlegung von Kühl- und Heizstandards und -Kontrollen. Regierungs- und öffentliche Gebäude sollten dabei die Führung übernehmen, um ein Beispiel zu geben, während entsprechende Kampagnen Verhaltensänderungen bei den Verbrauchern fördern sollen.
  • Verbesserung der Koordinierung zwischen Gas- und Elektrizitätsbetreibern in ganz Europa. Dies kann dazu beitragen, die Auswirkungen eines geringeren Gasverbrauchs auf die Stromversorgungssysteme zu reduzieren. Sie sollte eine strikte Zusammenarbeit beim Betrieb von Wärmekraftwerken auf nationaler und europäischer Ebene umfassen.
  • Harmonisierung der Notfallplanung in der gesamten EU auf nationaler und europäischer Ebene. Dies sollte Maßnahmen für Versorgungskürzungen und Solidaritätsmechanismen beinhalten.

Wenn die vorgeschlagenen Maßnahmen jetzt nicht umgesetzt werden, wird sich Europa in einer äußerst verwundbaren Position befinden und könnte dann später mit viel drastischeren Kürzungen konfrontiert werden.

Zusätzlich zu den oben genannten Maßnahmen müssen die Regierungen die Menschen auf mögliche Sparmaßnahmen vorbereiten. Kampagnen zur Sensibilisierung der Öffentlichkeit im Kontext einer Energiekrise waren bisher erfolgreich, um den kurzfristigen Energiebedarf um mehrere Prozent zu senken. Jede Aktion zählt, einfache Schritte wie zum Beispiel das Herunterdrehen der Heizung um ein paar Grad können eine beachtliche Menge an Gas einsparen.

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Russlands Einnahmen aus den Energieexporten sind trotz stark reduzierter Lieferungen in die EU-Länder wesentlich höher als in den vergangenen Jahren

 

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Seit der Invasion in der Ukraine hat sich die Höhe der Einnahmen, die Russland durch den Export von Öl und Gas nach Europa erzielt hat, im Vergleich zum Durchschnitt der letzten Jahre auf 95 Milliarden Dollar fast verdoppelt.

Es war eine falsche Annahme vieler westlicher Politiker und Analysten zu glauben, dass geringere russische Öl-Exporte in die EU-Länder als Folge der Sanktionen einerseits und geringere Gaslieferungen als Reaktion Russlands auf die westlichen Sanktionen andererseits Russlands Wirtschaft schwer treffen würden**.  Fakt ist, dass die geringeren Exportmengen durch die extrem gestiegenen Preise mehr als kompensiert werden. Wie die obige Grafik zeigt, waren Russlands Energieeinnahmen in der Zeit von März 2022 bis Juli 2022 wesentlich höher als der Durchschnitt der vorhergehenden Jahre.

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Welche Länder sind besonders stark von der Verknappung der russischen Gaslieferungen betroffen?

Manche EU-Länder wie Deutschland, Österreich, die Slowakei, Ungarn und Tschechien sind besonders stark von russischen Gasimporten abhängig. Deutschland befindet sich in einer sehr schwierigen Lage, da es einerseits sehr stark von russischem Gas abhängig ist und andererseits wichtige Bereiche der deutschen Wirtschaft, wie zum Beispiel die Chemieindustrie, Gas als Ausgangsmaterial brauchen. Möglicher Ersatz für fehlendes russisches Gas ist zu einem großen Teil LNG (Flüssiggas) aus verschiedenen Gasexportländern wie den USA, Katar und Kanada, doch für den Import von Flüssiggas fehlt Deutschland die Infrastruktur. Während die meisten EU- Länder wie Frankreich, Italien, Spanien, Belgien, die Niederlande, Schweden, Finnland, Griechenland, Kroatien, Polen und Litauen über ein oder mehrere LNG Terminals verfügen, die notwendig sind um Flüssiggas zu importieren, hat Deutschland kein einziges LNG-Terminal***. Derzeit wird fieberhaft an einem „Floating LNG Terminal“ (=schwimmendes LNG-Terminal) in Wilhelmshafen*** gebaut, das bis zum November 2022 fertiggestellt werden soll, doch die vorgesehene Kapazität reicht bei weitem nicht aus, um die fehlenden russischen Gaslieferungen zu ersetzen.

Italien ist in Bezug auf Alternativen zu russischem Gas wesentlich besser aufgestellt als Deutschland. Italien verfügt über 3 LNG Terminals**** und kann somit Flüssiggas aus diversen Gasexportländern importieren. Ein beträchtlicher Teil der italienischen Gas-Importe stammt aus Algerien und wird  von dort zu einem großen Teil über Pipelines, aber auch als Flüssiggas importiert. Seit Russland seine Gasexporte nach Europa gekürzt hat, hat Italien mit Algerien, Angola, der Republik Kongo und Israel vereinbart zusätzliche Mengen an Flüssiggas zu importieren Auch wenn Italien im Rahmen seiner Strategie zur Diversifizierung der Importe zusätzliche Gaslieferungen gesichert hat, bleibt doch die Sorge, dass eine weitere Verknappung der russischen Gaslieferungen die Lage am Gasmarkt weiter anspannen könnte, vor allem ein weiterer Anstieg der Gaspriese wäre für die Verbraucher sehr belastend.

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Entwicklung der Gaspreise auf dem Europäischen Markt

Zwischen Oktober 2021 und August 2022 stiegen die Gaspreise in Europa um 231%. Der Spotpreis für Gas in Europa überschritt im Juli 3.300 US-Dollar pro 1.000 Kubikmeter. Das ist der Höchststand seit dem 7. März, kurz nach der russischen Invasion in die Ukraine. als ein historischer Gaspreis von 3.898 US-Dollar pro 1.000 Kubikmeter verzeichnet wurde. Anfang Oktober letzten Jahres überstiegen die Gaspreise 1.000 US-Dollar pro 1.000 Kubikmeter, ein Rekord seit März 2018.

Zusätzlich zur bereits bestehenden Verknappung der Gaslieferungen aus Russland hat die geplante Stilllegung der Nord Stream-1-Gaspipeline für drei Tage (vom 31. August bis 2. September) für Wartungsarbeiten die Preise weiter in die Höhe getrieben. Darüber hinaus ist der Anstieg der Gaspreise in Europa auch durch die extreme Hitze und Trockenheit im heurigen Sommer bedingt, was zu einem Rückgang der Stromerzeugung durch Windkraftanlagen und zu einer Verringerung des Kohletransports entlang der Wasserstraßen führte.

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Fazit

Die Sorge über eine weitere Verknappung der russischen Gaslieferungen in den EU-Ländern bleibt weiter bestehen, da es große Unsicherheiten bezüglich Russlands Plänen gibt. Infolge der extrem gestiegenen Gaspreise in Europa kann Russlands Wirtschaft auch mit sehr geringen Gaslieferungen auskommen und könnte die Gaslieferungen weiter knapp halten oder sogar noch weiter drosseln.

Aus energiepolitischer Sicht zeigen die zunehmende Verknappung und die steigenden Preise von Gas einmal mehr die Bedeutung der Energiesicherheit auf sowie die Notwendigkeit zum Übergang in saubere Energie, nicht nur um die Klimaziele zu erreichen. Um die aktuelle Gas-Krise einigermaßen unbeschadet zu überstehen, werden kurzfristig klimapolitische Kompromisse gemacht werden müssen: in manchen Ländern werden Kohlekraftwerke zur Stromerzeugung länger im Betrieb bleiben müssen, als ursprünglich geplant war. Auch die Stromerzeugung aus Kraftwerken, die mit Produkten aus Erdöl betrieben werden, wird kurzfristig wieder eine Option sein. Zusätzlich werden in einigen Ländern Atomkraftwerke, die geschlossen werden sollten, weiter am Netz bleiben. Sparmaßnahmen vor allem im Strom- und Heizungsbereich sowohl in den Betrieben als auch in den Privathaushalten,  aber auch im Industriebereich werden in den meisten europäischen Ländern notwendig zu sein, wenn die russischen Gaslieferungen weiter auf niedrigem Niveau bleiben oder sogar noch sinken. Die Politik ist gefordert entsprechende Maßnahmen zu setzen, um sämtliche Einsparpotentiale auszuschöpfen, damit die Herausforderungen im kommenden Winter gemeistert werden können.

* Russlands Gaslieferungen deckten im Jahr 2021 40% des Bedarfs der Europäischen Union. Russland lieferte auch etwa 27% der EU-Ölimporte sowie 46% der EU-Kohleimporte.

** Geringere Erdölexporte in die EU-Länder hat Russland durch mehr Exporte nach Indien, China und in andere nicht-westliche Länder zu einem erheblichen Teil bereits kompensiert. Geringere Gaslieferungen in die EU-Länder können wegen fehlender Infrastruktur (Pipelines und Gas-Verflüssigungsanlagen sowie LNG Terminals) kurzfristig nicht durch Exporte in andere Länder kompensiert werden, doch als Folge der extrem hohen Preise sind Russlands Einnahmen aus den Gasexporten in die EU höher als in den vergangenen Jahren.

*** Deutsch­land plant an den Stand­or­ten Wil­helms­ha­ven, Bruns­büt­tel, Sta­de und Lub­min ins­ge­samt vier Flüs­sig­­gas-Ter­mi­nals. Anfang Juli 2022 war der Bau­start für Deutsch­lands ers­tem LNG-Ter­mi­nal in Wil­helms­haven. LNG kann welt­weit trans­por­tiert wer­den und er­mög­licht so den Han­del mit in­ter­na­ti­o­na­len Gaslieferanten, die über Pipe­lines kein Gas nach Deutsch­land trans­por­tie­ren kön­nen. Durch den Auf­bau ei­ner ei­ge­nen LNG-In­fra­struk­tur er­höht Deutsch­land die Diversifizierung seiner Gas- Be­zugs­quel­len und kann so mittelfristig die Energieabhängigkeit von Russland beenden oder zumindest stark reduzieren.

****Ein LNG-Terminal befindet sich in Panigaglia (Ligurien), ein weiteres ist das OLT-LNG-Terminal in der Toskana und ein drittes Terminal liegt am Adriatischen Meer.