Gesellschaft | Interview

„Extrem leistungsgedrillte Provinz“

Sarah Trevisiol über die gefühlte Enge zwischen den Bergen, ihren neuen Film „Vinschgau: Gehen oder bleiben?“ und die Abwanderung aus Südtirol. Mit Trailer.
Sarah Trevisiol
Foto: Seehauserfoto
  • SALTO: Frau Trevisiol, rund 1.000 Menschen unter dem 30. Lebensjahr verlassen pro Jahr unser Land.

    Sarah Trevisiol: Für uns ist das alarmierend. Viele junge Menschen, aber nicht nur, verlassen Südtirol und kommen nicht mehr zurück. Gemeinsam mit Simon Mariacher und Marco Telfser, die auch Rückkehrer sind, habe ich mich mit diesem Thema auseinandergesetzt. Wir wollen nicht nur erzählen, was die Beweggründe sind, Südtirol zu verlassen, sondern auch jene Pionier-Projekte beleuchten, die junge Menschen anziehen. 

     

    „Er konnte dem Druck nicht mehr standhalten, verlor den Bezug zu sich selbst und landete in der Psychiatrie.“

     

    Welche Art von Film ist das?

    Es ist ein Dokumentarfilm. Anhand persönlicher Erzählungen berichten wir über Leuchtturm-Projekte im Vinschgau, welche versuchen neue Lebens- und Arbeitsräume aufzubauen und gleichzeitig den Gemeinschaftssinn im ganzen Tal zu stärken. 

    Nur Vinschgau?

    Ja. Wir wollen damit konkret aufzeigen, dass auch Täler, die oft in der medialen Berichterstattung unterrepräsentiert sind, spannende Projekte liefern. Die Absicht ist es, das Kirchturmdenken zurückzulassen, das heißt Leute aufzufordern, nicht nur ihr eigenes Süppchen zu kochen, sondern sich vielmehr mit andern zusammenzuschließen und gemeinsam Regionalentwicklung zu fördern. Das ist unseres Erachtens die Zukunft. 

  • (c) Rai/Trevisiol

  • Die Zusammenarbeit?

    Ja, nicht nur auf das einzelne Dorf achten, sondern einen flächenübergreifenden und interdisziplinären Ansatz wählen. Das motiviert junge Menschen, nicht nur weil sich neue Arbeitsmöglichkeiten eröffnen, sondern auch weil eine kulturelle Vielfalt geboten wird, die vor allem in abgelegenen Tälern noch stark vermisst wird. 

    Es gibt in jeder Gemeinde einen Jugendraum… 

    Jugendräume sind wichtig aber nicht ausreichend. Es braucht Kontaktpunkte mit allen Generationen, es braucht gemeinsame Ziele und Experimentierflächen, wo man sich selbst kennenlernt und gegenseitig voneinander lernt. Diese Räume braucht es nicht nur für die Jugend, sondern für alle. Sich selbst (kreativ) entfalten oder sich Anderen mitteilen wollen, ist in jedem Alter bereichernd. 

     

    „Mit diesem Film möchten wir aufzeigen, dass sich junge Menschen in Südtirol nicht immer wohl fühlen.“

     

    Die Jugend sollte zudem Inhalte und Wege auch eigenständig entscheiden dürfen, genauso aber lernen, Verantwortung zu übernehmen. Die BASIS, aber auch Vinterra, die BGO, die Tschengelsburg, der Bunker 23, das Projekt „Stilfs: Resilienz erzählen“ und die Marmorschule in Laas zeigen, dass wenn man (offene) Räume zur Verfügung stellt, Neues entstehen kann, von denen alle profitieren können. Es braucht Vertrauen in die Veränderung, Vielfalt der Möglichkeiten und Stimmen sowie einen gemeinsamen Austausch. 

    Gleichzeitig ist die BASIS unter der Bevölkerung von Schlanders noch wenig beliebt.

    Ja, das ist leider das Problem von vielen Pionier-Projekten, das Neue löst in vielen Angst aus, in anderen aber auch Kuriosität und Kreativität. Mit diesem Film möchten wir aufzeigen, dass sich junge Menschen in Südtirol nicht immer wohl fühlen, sie haben häufig das Gefühl, sich nicht wirklich entfalten zu können, hier nicht willkommen zu sein oder ihre Potentiale nicht ausschöpfen zu können. Wenn das so bleibt, haben wir morgen ein Problem. Wir können keine Gesellschaft stützen, wenn es an jungen Menschen, Arbeitskräften und neuen Ideen fehlt. 

  • Sarah Trevisiol: „Der Film verfolgt einen positiven Ansatz, um Menschen in Südtirol zu inspirieren und zu vernetzen.“ Foto: Seehauserfoto

    Welche Voraussetzungen braucht es dafür, dass sich junge Menschen hier wohl fühlen?

    Grundvoraussetzung ist natürlich ein leistbarer Wohnraum und mehr Wohngemeinschaften. In Südtirol gibt es wahnsinnig viele leere Häuser. Wenn, dann werden sie für ein paar Wochen dreimal im Jahr an Touristen vermietet. Oftmals finden hier lebende und arbeitende Menschen aber keinen Wohnraum. Zudem brauchen wir eine Diversifizierung der Wirtschaftszweige. Wir können nicht weiterhin glauben, dass Südtirol alleine durch klassische Landwirtschaft und Tourismus aufrechterhalten werden kann. Dafür braucht es einen institutionellen Willen, der Bürgerinnen und Bürgern Entfaltung und Freiraum ermöglicht, in der Arbeits- wie Freizeitgestaltung. Es braucht ein vielfältiges kulturelles Angebot, Inspirationsquellen, eine offene Haltung gegenüber neuen Vorschlägen, Bewegungsfreiheit dank verstärkter öffentlicher Verkehrsmittel (vor allem abends) und es braucht Mitspracherecht. 

    Wie der Vinschgau genau das macht, zeigen Sie in dem Dokumentarfilm, nehme ich an. 

    Genau, es gibt acht Protagonist*innen. Einer davon ist italienischsprachig und als einziger nicht in Südtirol geboren. Er hat als Italienischlehrer im Vinschgau gearbeitet, weil er sich bewusst für diese Landschaft und Kultur entschieden hat. Die anderen sind in Südtirol geboren und aufgewachsen. Einer davon studiert in Wien Wirtschaft und überlegt noch, danach wieder zurückzukehren oder nicht. Die meisten Protagonist*innen sind zurückgekehrt. Sie lebten zuvor in Städten wie Wien oder Paris und haben hier dann ein kulturelles Ambiente vorgefunden, wo neue Ideen wenig Platz haben. Das ist für viele frustrierend. Deswegen haben sie sich entschieden, Pionier-Projekte mitaufzubauen. Der Film verfolgt einen positiven Ansatz, um Menschen in Südtirol zu inspirieren und zu vernetzen. Es gibt sicherlich viel mehr spannende Pionier-Projekte im ganzen Land, die genauso neue Anziehungspunkte sind und neue Inspirationsquellen. 

  • Simon Mariacher und Marco Telfser (v.l.): Gemeinsam mit Sarah Trevisiol und vielen anderen setzten sie das Filmprojekt um. Foto: Rai/Trevisiol
  • Was hat Sie während der Filmarbeiten besonders berührt?

    Der Protagonist Albin, der in der Sozialgenossenschaft Vinterra arbeitet. Er erzählt, wie er gebrochen wurde, von dieser Mentalität des „buggeln, buggeln, buggeln“, welche keinen Raum für Freizeit und Entspannung lässt. Er wurde erzogen wie viele andere hier: immer nur leisten, immer nur beweisen, wie viel man arbeitet, egal ob es einem gefällt, egal wie es einem dabei geht. Er konnte dem Druck nicht mehr standhalten, verlor den Bezug zu sich selbst und landete in der Psychiatrie. Solche Themen werden in Südtirol nicht gerne angesprochen. Wir leben in einer extrem leistungsgedrillten Provinz, in der viele Fälle von Burn Outs, Depressionen und Suiziden existieren, aber still geschwiegen werden. Junge Menschen bemängeln das Fehlen von einer gesunden Work-Life-Balance und von einem vielfältigen Freizeit-und Kulturangebot. Ich möchte mich auch in meiner Freizeit entfalten können und verstehen, wer ich bin und was ich alles kann. Ich definiere mich ja schließlich nicht nur durch Arbeit.

     

    „Ich habe während der Dreharbeiten wieder beschlossen, wegzuziehen.“

     

    Was müsste geändert werden?

    Es muss diese Mentalität aufgebrochen und neue Vorschläge angehört werden. Das ist auch das Ziel dieses Films und ich bin sehr froh, dass wir hier mit der Rai und dem Amt für Film und Medien zusammenarbeiten konnten, denn es braucht ein generationenübergreifendes Verständnis und Vertrauen. Ältere Generationen müssen bereit sein, sich neue Vorschläge anzuhören, und jüngere Generationen sollten verstehen, dass nicht das Alte ersetzt, sondern weiterentwickelt werden muss. Wie können Ressourcen so genutzt werden, dass in Südtirol alle einen Platz finden?

  • Filmausschnitt: Neue Möglichkeiten finden, um zu arbeiten, zu wohnen, zusammenzuleben; Foto: Rai/Trevisiol

    Der demografische Wandel macht diese Frage heute vielleicht noch wichtiger als noch vor Jahrzehnten. 

    Die Menschen im Vinschgau sind von der Abwanderung besonders betroffen, weil viele wegen der besseren Löhne und Chancen ins Ausland gehen. Wie lange wollen wir da noch wegschauen? Täler wie der Vinschgau werden oft vergessen, dabei leben dort oft sehr kreative Menschen, weil sie aus dem Nichts vieles gestalten müssen. 

    Sie haben zuvor den Leistungsdruck angesprochen. Viele junge Menschen kommen mit diesem Druck nicht mehr klar und haben psychische Probleme. 

    Es geht um Selbstfürsorge. Je mehr wir auf uns schauen und auch gegenseitig aufeinander schauen, anstatt uns ständig mit anderen zu messen und auszupressen, desto länger können wir auch arbeiten. Wir sind dann zudem glücklichere Menschen und haben Lust und Energie, auch außerhalb unserer Arbeit was zu machen. Ansonsten bauen sich Frust und Müdigkeit auf. 

     

    „Ich wünsche mir, dass auch hier eines Tages alle sich selbst sein können, ohne Angst davor ausgeschlossen oder belächelt zu werden.“

     

    Wieso sind Sie in Südtirol geblieben?

    Schwierige Frage (lacht). Ich habe während der Dreharbeiten wieder beschlossen, wegzuziehen. Nach drei Jahren Südtirol brauche ich wieder ein offenes Umfeld, in dem meine individuellen Fähigkeiten und mein Teamgeist gefeiert werden, ohne dass meine Andersheit in irgendeine Schublade gepresst werden muss, um Platz zu finden. Ich wünsche mir, dass auch hier eines Tages alle sich selbst sein können, ohne Angst davor ausgeschlossen oder belächelt zu werden. Für mich sind gerade Projekte wie jene, die wir im Film porträtiert haben, so wichtig für Südtirol, weil sie der Region zu einer offeneren Haltung verhelfen, welche Vielfalt, Selbstentfaltung und auch Rückkehr (junger) Menschen ermöglicht.

  • Filmausschnitt: Acht Protagonist*innen erzählen, wie sie sich in Südtirol fremd und zuhause gefühlt haben. Foto: Rai/Trevisiol
  • „Vinschgau: Gehen oder bleiben?“

    Südtiroler Dialekt (auch in italienischer Version)

    Die Produktion von Sarah Trevisiol wird in Zusammenarbeit mit der Rai durchgeführt und vom Amt für Film und Medien finanziell unterstützt. Der Dokumentarfilm wird in den kommenden Monaten südtirolweit zu sehen sein. Die Premiere findet am 24. April um 19 Uhr in der BASIS Vinschgau Venosta in Schlanders statt, hier der Link zur Anmeldung. Die Ausstrahlung über die Rai ist für den Sommer geplant.

    Buch und Regie Sarah Trevisiol, Kamera und Beleuchtung Marco Telfser, Ton Simon Mariacher, Musik Maurizio Efisio Pala, Sound Design Niccolò Bosio, Schnitt Sarah Trevisiol, Schnittassistenz Simon Mariacher, Beratung Postproduktion Matteo Vegetti, zusätzliche Bildaufnahmen Gabriel Höllriegl und Florian Steiner, zusätzliche Musik Big Band Mals und Band „One Way“ sowie Robin Diana und Pasui, Stimmen italienische Version Sagapò Teatro und Sara Pantaleo sowie Gianluca Bazzoli;

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Josef Fulterer So., 31.03.2024 - 06:45

Die Situation war zu meiner Jugendzeit (Jahrgang 1938) nicht viel anders. In diese Zeit sind die mühsamen Aufbaujahre nach dem 2. Weltkrieg gefallen + die durch den großen Knick unterbrochen wurden, infolge der Aktion "LOS von TRIENT der SVP" zur Folge hatte, dass 35.000 Arbeitskräfte im umliegenden Ausland auf Arbeitssuche gehen mussten.
Während wir damals die deutlich spärlicheren Möglichkeiten zu nutzen versucht haben + dringend notwendige Änderungen einzubahnen, wird heute -g e f o r d e r t: Wohnraum, atraktive Arbeitsplätze, Freizeitmöglichkeiten, die Überbetonung des Spitzensports usw.
Die heutige Jugend hat den leichteren Zugung zu deutlich mehr Ausbildungsmöglichkeiten, die leider zu oft durch die -f e h l -g e l e i t e t e- Hinlenkung auf den Spitzensport verplempert wird.

So., 31.03.2024 - 06:45 Permalink
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nobody Mi., 03.04.2024 - 22:43

"Wer angibt hat mehr vom Leben" scheint wohl die Devise zu sein. PS: Hoffentlich bin ich in ihrem Alter auch noch geistig so fit.

Mi., 03.04.2024 - 22:43 Permalink