Gesellschaft | Einwanderung

Von den Rechten freier Menschen

Ich war kürzlich und nach längerer Zeit mal wieder in San Gimignano eingekehrt, einem von sechs Orten in der Toskana, die als UNESCO-Weltkulturerbe gelistet sind. Hunderte Busse speien dort in der Saison täglich Tausende Touristen aus aller Herren Länder in die mittelalterlichen Gassen, und der Spuk hält an bis zum späten Nachmittag.
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Dann kehrt Ruhe ein im „Manhattan des Mittelalters“, für ein paar Stunden. Ich glaube übrigens, noch nirgends eine so maximale Dichte an Ess-Lokalen – Trattorie, Osterie, Restaurants – erlebt zu haben: Sie haben, mit zahllosen Souvenir-Läden, den ganz normalen Alltag so gut wie völlig aus der Altstadt verdrängt, zugunsten eines Tagestourismus à la Disney-Land – ein Alptraum, bei Licht betrachtet, wenn auch in einer sehr schönen Kulisse, und jedenfalls „finchè le torri reggono“, wie eine Einheimische resigniert seufzte. Ich bin mir noch nicht ganz im Klaren darüber, was besser ist: Verlassene und verfallende Altstädte, oder Städte und Ortschaften, die ihren Leib retten, indem sie ihre Seelen zu 100 Prozent an die Touristen verkaufen (und dabei keineswegs anspruchsvoll sind).


So viel zur Vorgeschichte. Ich finde sie wichtig, weil ich mir an einem solchen Ort – einem also, der in gewissem Sinne seine Seele an den Teufel verkauft hat – nun wirklich nicht erwartet hätte, eine Tafel mit folgender Inschrift zu entdecken, und zwar in einer sehr prominenten Position auf einem der zentralsten Plätze des Städtchens: 


„La città di San Gimignano, con deliberazione unanime del Consiglio Comunale, dedica questa piazza per un anno

A TUTTI I MIGRANTI MORTI NELLE ACQUE DEL MARE MEDITERRANEO

perché si affermino i loro diritti ad aspirare ad una vita migliore e perché non si ripetano più le troppe stragi silenziose che si consumano al confine dell’Europa.

Ich habe mir gedacht, was für schöne Menschen das doch sein müssen, diese Gemeinderäte, die einstimmig ein so starkes Signal und eine so deutliche Botschaft in diese Welt setzen, in diesem San Gimignano der Touristenmassen und „der Wirtschaft“, umso mehr, als man hier - im wörtlichen und im übertragenen Sinne - weit, weit weg ist von jenem Elend. Und dieser eine Satz hier, „il diritto ad aspirare ad una vita migliore“ hat mich besonders nachdenklich gemacht, denn darum geht es doch, finde ich, aber niemand sagt es je: Dass jeder Mensch zu jeder Zeit das Recht hat, nach einem besseren Leben zu streben. Und nirgends steht geschrieben, dass dieses Streben hier und nicht dort stattzufinden habe. Und niemand, finde ich, hat das Recht, einem freien Menschen dieses Recht zu verwehren.

Dann kam ich wieder heim, und derweil ich noch über die Gemeinderäte in San Gimignano grübelte und über ihre stille Geste, die doch hoffentlich in vielen Köpfen lange nachhallen möge, begegnete ich einer Botschaft des Herrn Pius Leitner, Herz und Kopf der zweitstärksten Partei im Lande (die sich, da schau an, die Verteidigung der abendländisch und christlich (!) geprägten Leitkultur auf die Fahnen geschrieben hat), der sich gen Brüssel aufmachen will, um von dort aus (unter anderem) die Einwanderung zu beschränken. Ah ja. Wie er das anstellen will, hat Herr Leitner,  glaube ich, noch nie wirklich verraten, und ich kann mir eigentlich nicht wirklich vorstellen, wie das gehen soll – außer, man überlässt die Menschen kaltblütig (und ganz und gar nicht christlich…) dem Meer und ihrem ganzen, grenzenlosen Elend.

Ich weiß nicht, warum die Dinge sind, wie sie sind, ich kann es nur ahnen. Aber ich glaube nicht, dass das Rezept des Herrn Leitner – wir lassen die einfach nicht herein zu uns, und wenn wir denn unbedingt welche herein lassen müssen, dann, bitteschön, nur die Besten (wie zynisch - und kurzsichtig - ist das denn?!) – funktionieren kann. Die Geschichte hat uns doch immer wieder gezeigt, dass es noch keiner reichen Gesellschaft und auf Dauer je gelungen ist, die Armen außen vor zu lassen. Früher oder später bekamen die Hungrigen Oberhand, und die Geschichte/n endete/n meist gar nicht gut – für die Reichen.

In diesem Sinne, Herr Leitner, könnten Sie sich ja in Brüssel, sofern Sie dorthin ziehen sollten, aber doch auch unabhängig davon dafür einsetzen, dass nicht nur die Südtiroler Grenzen gen Norden, sondern alle Grenzen, die materiellen und die in unseren Köpfen, abgebaut werden und dass für alle Menschen gelten darf,  was bei uns längst selbstverständlich ist: Das Recht, nach einem besseren Leben (!) zu streben - ohne dafür just dieses aufs Spiel setzen zu müssen.