Politik | Gastbeitrag

Freiwilliger Proporz

Der Politikwissenschaftler Günther Pallaver über die Forderung nach einem zweiten italienischen Landesrat und einen möglichen Ausweg aus dem Dilemma.
Palais Widmann
Foto: LPA/ohn
  • Seit 23. Oktober geht`s bei der Diskussion um die Zusammensetzung der Landesregierung um Dezimalstellen. Bei Bedarf wird beim Rechnen auch gleich die Anzahl der Regierungsmitglieder erhöht. Nachdem bei den Wahlen nur fünf italienische Abgeordnete in den Landtags gewählt wurden, steht laut Proporzregelung der italienischen Sprachgruppe nur ein Landesrat zu, weil die Zusammensetzung der Landesregierung im Verhältnis zur Stärke der Sprachgruppen steht, wie sie im Landtag vertreten sind. Berechnungen hin oder her, es wird einfach nicht mehr als ein italienischer Landesrat.

    Berechnungen hin oder her, es wird einfach nicht mehr als ein italienischer Landesrat.

    Aber die italienischen Abgeordneten fordern nun einen zweiten Landesrat. Zentrales Argument: Im Landtag ist die italienische Bevölkerung mit 14 Prozent vertreten, laut Volkszählung ist die italienische Sprachgruppe aber 26 Prozent stark und somit im Landtag unterrepräsentiert. Da man die Anzahl der Landtagsabgeordneten nicht erhöhen kann, soll zumindest die Anzahl der Regierungsmitglieder den Volkszählungsergebnissen angepasst werden. 

  • Einfrieren

    Amtierende Landesregierung: Das Autonomiestatut hängt nicht vom schönen oder schlechten Wetter ab. Foto: Seehauserfoto

    Würde man diesem Argument folgen, müsste man den ethnischen Proporz für die Landesregierung einfrieren. Das würde bedeuten, jede Sprachgruppe wird laut Volkszählung proportional in der Landesregierung berücksichtigt. 2 ItalienerInnen, ein/e LadinerIn, der Rest, je nach Größe der Landesregierung, deutschsprachige Mitglieder. 
    Es ist eine Variante, die gar nicht so abwegig ist und die Diskussion um Prozentsätze erledigen würde. Eine solche Aufteilung würde in etwa der Zusammensetzung der Landesregierungen der letzten 25 Jahre entsprechen. Im Durchschnitt waren sieben italienische Abgeordnete im Landtag vertreten. Außer in den Legislaturperioden 1998-2003 mit drei italienischen Landesräten und 2013-2018 mit nur einem italienischen Landesrat vertraten immer zwei Landesräte die italienische Sprachgruppe in der Landesregierung. 
    Eine Einfrierung des Proporzes ist aber aktuell politisch wohl nicht realisierbar. 
    Die rein numerische Argumentation ist jedenfalls schwach. Das Autonomiestatut hängt nicht vom schönen oder schlechten Wetter ab. Entweder man hält sich an die aufgestellten Regelungen oder man ändert diese. Nur ins Leere fordern ist zu wenig. 

  • Konkordanzdemokratie

    Wenn man sich hingegen das politische System Südtirols vor Augen hält, so ist die Argumentation eines zweiten italienischen Landesrates stichhaltig. In einer ethnisch gespaltenen Gesellschaft mit ihrem Konkordanzmodell geht es um die maximale Einbeziehung aller Sprachgruppen in den Entscheidungsprozess. Die Unterrepräsentation einer Sprachgruppe widerspricht diesem Prinzip, sodass man Lösungen suchen muss, um diese Schieflage zu beseitigen. Eine solche ethnische Unterrepräsentation gibt es schon seit Jahren, ohne dass an den Schrauben der Reform gedreht worden wäre. Schauen wir uns die Entwicklung seit den ersten Landtagswahlen im Jahre 1948 an. 

  • Foto: SALTO
  • Koalitionen werden in Südtirol nach ethnischen und politischen Dimensionen geschlossen. Die ethnische Dimension ist vom Statut her verpflichtend vorgesehen, die politische Kompatibilität hängt von der jeweiligen ideologischen und autonomiepolitischen Nähe der Koalitionspartner ab.  In der ersten Republik von 1948 bis 1993 war die italienischsprachige Bevölkerung immer mit rund 40 Prozent in der Landesregierung vertreten, einmal sogar mit über 50 Prozent (1973-1978). 
    Im Übergang von der Ersten zur Zweiten Republik ab 1993 folgte eine lange Periode, in der die meisten italienischen Parteien im Südtiroler Landtag mehrheitlich Anti- oder Semiautonomieparteien waren. Autonomieparteien sind Parteien, die für die Autonomie ihrer Region eintreten. Unter Semiautonomie-Parteien werden jene Parteien eingestuft, die die Autonomie als Zwischenschritt bejahen, aber als Endziel eine sezessionistische Lösung anstreben. Antiautonomie-Parteien lehnen in der Logik eines zentralistischen Staates jede Autonomie ab.  Auf Grund dieser autonomiepolitischen Distanz kamen ab 1993 bestimmte Parteien wie Alleanza Nazionale, Forza Italia oder Unitalia, die in der Regel auch eine politische Entfernung aufwiesen, für eine Koalition mit der SVP als Autonomiepartei nicht wegen einer ethnischen, sondern wegen einer autonomiepolitischen Unvereinbarkeit nicht in Frage. 

    Der “disagio degli italiani“ hing in der Vergangenheit unter anderem auch von diesem mehrheitlichen Ausschluss aus den Entscheidungsprozessen auf Landesebene ab. 

    Das führte dazu, dass die große Mehrheit der italienischen Bevölkerung keine adäquate politische Vertretung in der Landesexekutive hatte. Von der Legislaturperiode ab 1993 bis 2018 lag die politische Vertretung der italienischen Bevölkerung in der Landesregierung immer unter 30 Prozent. 70 Prozent der italienischen Bevölkerung fühlten sich ausgeschlossen. Erst mit dem Wahlsieg der Lega im Jahre 2018 stieg die Vertretung der italienischen Gesellschaft auf 44,6 Prozent. Der “disagio degli italiani“ hing in der Vergangenheit unter anderem auch von diesem mehrheitlichen Ausschluss aus den Entscheidungsprozessen auf Landesebene ab. 
    Unter systemischen Gesichtspunkten zur Absicherung der Konkordanzdemokratie wäre somit eine zweite italienische Vertretung in der Landesregierung gerechtfertigt, auch wenn rein formell den ItalienerInnen nur ein einziger Regierungssitz zusteht.

  • Der freiwillige Proporz als Ausweg

    Die Stärke der Südtiroler Autonomie beruht in ihrer Flexibilität und Anpassungsfähigkeit an die soziale Wirklichkeit, in ihrem ständigen Wandel. Das kann man gut beim ethnischen Proporz nachvollziehen. Die rigide Anwendung des Proporzes in der Anfangsphase stieß schon bald an seine personellen Grenzen. Die Lösung, um personelle Engpässe zu überwinden, bestand in einer Art Kreditsystem. Die einer Sprachgruppe zustehenden Stellen können bei fehlenden BewerberInnen einer Sprachgruppe, etwas vereinfacht dargestellt, auch von BewerberInnen einer anderen Sprachgruppe besetzt werden. Bei diesem flexiblen Proporz müssen die durch Personal einer anderen Sprachgruppe besetzten Stellen bei der nächsten Ausschreibung rückerstattet werden. 
    Selbst diese Lösung konnte den Personalmangel längerfristig nicht ausgleichen und wurde deshalb durch den sanften Proporz ergänzt. Wegen des Mangels an Ärzten kann, wieder etwas vereinfacht dargestellt, der Proporz wie die Zweisprachigkeitsprüfung bis zu fünf Jahren ausgesetzt werden. 
    In der Schweiz herrscht auch ohne gesetzliche Regelung eine freiwillige Proporzregelung, um allen politischen, konfessionellen und sprachliche Gruppen der Gesellschaft das Beteiligungsrecht an den öffentlichen Angelegenheiten zu garantieren. 

  • Regierungssitz Palais Widmann: Ein solcher Schritt würde einen Beitrag leisten, um nicht neue ethnische Spannungen hervorzurufen.

    Der freiwillige Proporz könnte auch bei der Besetzung der Landesregierung angewandt werden. Da die italienische Sprachgruppe unterrepräsentiert ist, könnte die Mehrheit entscheiden, den ItalienerInnen freiwillig ein zweites Mandat einzuräumen. 
    Dieser besonders großzügige Proporz wäre ein äußerst flexibles Instrument. Dieser wird freiwillig angewandt. Es hängt vom einsichtigen Willen der Mehrheit ab, jemanden ohne Rechtsanspruch in die Regierung  zu kooptieren, aus Gründen der politischen Opportunität. Eine solche Lösung würde nicht von der kontroversen Berechnung der Dezimalstellen abhängen, ob doch noch ein zweites Mitglied in der Regierung Platz finden könnte. Und drittens würde ein solcher Schritt einen Beitrag leisten, um nicht neue ethnische Spannungen hervorzurufen. 

  • Über das Verfahren selbst kann man diskutieren. Naheliegend wäre, die Regelung über die Kooptierung von LandesrätInnen in die Landesregierung mit kleinen Abweichungen anzuwenden. Jene Mitglieder der Landesregierung, die keine Landtagsabgeordneten sind, werden vom Landtag mit Zweidrittelmehrheit seiner Mitglieder auf Vorschlag des Landeshauptmanns gewählt. Aber in der aktuellen Zusammensetzung des Landtages würde es schwierig werden, eine solche Mehrheit zu erzielen. Deshalb könnte der fehlende Landesrat nur von den Parteien gewählt werden, die in der  Regierungskoalition eingebunden sind. Über das Verfahren zur freiwilligen Bestellung eines Landesrates/einer Landesrätin lässt sich jedenfalls trefflich diskutieren. Die Regelung sollte jedenfalls so einfach wie möglich sein.

    Ist der politische Wille vorhanden, kann die soziale Wirklichkeit nicht mehr standhalten.  

    Juristen haben Bedenken, das Autonomiestatut durch eine Durchführungsbestimmung zu ändern. Aber es wäre nicht das erste Mal, daß so etwas erfolgt. Ist der politische Wille vorhanden, kann die soziale Wirklichkeit nicht mehr standhalten.