Politik | Europa, bewegt

Women of Scotland

Ja, er gefällt mir, der Gedanke: Wenn Schottland heute, am 21. September 2014, immer noch Teil des UK ist, dann verdanken wir das zu einem stattlichen Teil seinen Frauen.
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Schon in der letzten Vorwahl-Umfrage (15. bis 17.9.) zeichnete sich ab, dass eine weibliche Mehrheit von 57 Prozent gegen die Abspaltung stimmen wollte. Die (sporadischen) Nachwahlbefragungen haben diese Prognose bestätigt. Mir hat das eine kleine Geschichte in Erinnerung gerufen, die mein Vater zu erzählen pflegt, und derzufolge sein Vater einst gern den Verlockungen und Verheißungen der damaligen „Politik“ gefolgt und ausgewandert wäre, in eine – vermeintlich - bessere Zukunft und reichere Heimat. Allein, „di Mueter isch ihm net gongen.“ Die Schottinnen wollten auch nicht „gehen“, vielleicht, weil „es keine Antworten gab“, auf die wichtigen Fragen und Frauen dazu neigen, im Zweifel die Sicherheit dem Wagnis vorzuziehen. Es ist ja dieser nicht der schlechteste aller Wege.

So mancheineR mag sich auch überfordert gefühlt haben, von der Größe der Entscheidung, die zu treffen war, und von ihrer Tragweite. Dieser Gedanke kam mir zum ersten Mal, als sich herausstellte, dass die Wahlbeteiligung nicht ganz so hoch war wie die entsprechenden Prognosen, und zum zweiten Mal, als sie ausgerechnet in der Nationalistenhochburg (!) Glasgow ziemlich weit unter dem Landesdurchschnitt lag. Das ließe doch übrigens durchaus den Verdacht zu, dass seitens der links-progressiv-inklusivistischen National-Sezessionisten vielleicht doch ein gewisser Druck auf die Bevölkerung ausgeübt worden sein könnte, wenn auch ein sehr subtiler, und dass im letzten Moment den einen oder die andere die Nerven verlassen haben könnten.

Denn tatsächlich trug ja jede einzelne der Wählerinnen ganz allein daran, an dieser nicht unbeträchtlichen Bürde, in der Wahlkabine, ohne den „Trost“, dass der gewählte Politiker/die gewählte Partei ja notfalls wieder abgewählt werden könnte, falls die Wahl sich als falsch und ihre Folgen sich als unbequem herausstellen sollten (diese Wahrscheinlichkeit war ja gar nicht so gering im schottischen Abspaltungsszenario). Im Falle der Schottinnen – Schotten natürlich auch – gab es aber niemanden, zum Abwählen und mit-Tomaten-bewerfen, am Tag danach. Und also frage ich mich seither: Wer trägt eigentlich die Verantwortung, für die Folgen, wenn das Volk entscheidet? Alle gemeinsam? Niemand?

Nicht weniger außerordentlich ist, glaube ich, was eine englische Bewohnerin der königlichen Insel in das Mikro des Reporters fragte, ebenso empört wie bestürzt: Wie könne es sein, fragte (sich) die Frau öffentlich, dass eine kleine Minderheit (ca. 4 Millionen Schotten) über ihr – also das der Engländerin - und das Wohl und Wehe der anderen Landeshälfte (mit etwa 40 Millionen Einwohnern), ab- und be-stimmen könne, einfach so, und dass sie selbst und mit ihr die große Mehrheit der Bevölkerung nichts dazu sagen und noch weniger tun kann?!

Ist das Demokratie? Oder ein Problem? Aber auch: Wie sehr dürfen die demokratischen Rechte der einen jene der anderen beeinträchtigen und beschneiden? In Wahrheit, glaube ich, fängt genau hier „Nationalismus“ an, und da ist ganz und gar einerlei, ob er – wie Klaus-Dieter Frankenberger in der FAZ schreibt – (sich) „unter dem Stichwort soziale und historische Gerechtigkeit als progressive Kraft drapiert“, und links daherkommt. Einen sehr unschönen Beigeschmack hat in meinen Augen übrigens auch, dass Alex Salmond keine Skrupel hatte, seiner Bevölkerung Sicherheiten vorzugaukeln, die er selbst keineswegs hatte. Das ist übelster Populismus, wenn nicht Betrug an der eigenen Bevölkerung.

Nichtsdestotrotz stehen wir vor der Erkenntnis, dass ein kleines Völkchen von gerade Mal etwa 5.000.000 Köpfen durchaus die Kraft und die Macht gehabt hätte, Europa nachhaltig zu verändern, im Kollateralschaden-Modus. Bestimmt – es ist nicht gesagt, dass es u. U. Europa nicht hätte zum Besseren verändern können. Das Gegenteil ist aber auch keineswegs gewiss. Wir wissen es nicht, und haben nur Wahrscheinlichkeiten - im bestmöglichen Fall -, oder gar nur Hoffnungen bis Illusionen. Inwiefern ich es durchaus klug fände, dass in solch weit reichenden und schwer wiegenden Belangen lieber mit Filzpantoffeln und Samthandschuhen  hantiert würde, statt mit Elefantenfüßen durch den Porzellanladen zu trampeln. Einerseits.

Andererseits täten Regierungen,  kleine und große, hohe und weniger hohe vermutlich gut daran,  sehr genau hin zu hören und hin zu spüren, was da rumort, in der Bevölkerung, und warum es rumort. Ich denke – bzw. ist, was ich aus dem schottischen Referendum verstanden zu haben glaube - dabei  recht belanglos, ob diese Bevölkerung die „eigene“ ist, oder die des Nachbarn, oder dessen Nachbarn. Wenn also beispielsweise in Spanien die Katalanen ein Sezessions-Referendum erzwingen wollen, dann wäre es durchaus angebracht, dass sich die übrigen europäischen Regierungschefs mit Spaniern und Katalanen zur Besprechung und Lösungsfindung an einen gemeinsamen Tisch setzen. Denn es gibt – auch das kann am schottischen Referendum sehr schön abgelesen werden – keine „nationalen“ Probleme (mehr), in Europa. Es gibt nur europäische Probleme, und europäische Lösungen. Was immer Einer tut, hat Folgen, direkte und indirekte, mehr oder weniger schwer wiegende und weit reichende, für die anderen. Aber das müssen die Menschen Europas ja vielleicht erst lernen und begreifen.

Es dürfte allenfalls schwer werden, zu unterscheiden, was zuerst kam, oder auch:  Wie schaut’s in diesem Falle aus, mit der berühmten Frage nach „Henne oder Ei“? Ist der allenthalben aufkeimende und rasch sich ausbreitende Nationalismus (Regionalismus?) Ursache oder Folge des „diffusen Unbehagens“, das die Menschen erfasst zu haben scheint? Ist dieses Unbehagen etwas Eigenständiges, Nachvollziehbares, Erklärbares und Messbares? Oder wird es nach einem politischen Strickmuster und mit einem politischen Plan von politischen Kräften entfacht, und geschürt? Wo geht es um berechtigte Sorgen und Nöte, und wo um blanken, egoistischen und egozentrischen Nationalismus? Sind nationalistische Strömungen, Bewegungen und Ideologien der Blasebalg für das Feuer sezessionistischer Kräfte - oder ist es umgekehrt?

Und nicht zuletzt: Ist denn grundsätzlich das Denken und Planen nach historischen, sprachlichen, kulturellen Mustern und Vorlagen überhaupt noch zeitgemäß? Sabine Riedel beschreibt es für die NZZ so (http://www.nzz.ch/meinung/debatte/die-eu-muss-sich-mit-dem-separatismus-auseinandersetzen-1.18384834):

„Deshalb werden sich die Staaten Europas auch über die EU hinaus mit den Argumenten des Separatismus auseinanderzusetzen haben. Sie sollten intensiver prüfen, ob Staatsgründungen auf der Basis kultureller, sprachlicher oder historischer Vorbilder tatsächlich ein demokratisches und progressives Anliegen sind, wie die EFA und ihre Mitgliedsorganisation SNP behaupten. Oder verbirgt sich dahinter nicht ein vormodernes Staatsverständnis, das die territoriale Integrität unserer demokratischen Willensnationen untergräbt?
Wer zur heutigen europäischen Friedensordnung steht und die Zusammenarbeit der europäischen Staaten fördern möchte, kann nicht gleichzeitig neue Mauern hochziehen und um deren Standort mit den Nachbarn streiten.“