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Was ist passiert, dass eine Diskussion über geschlechterspezifische Gewalt derart ausarten konnte? Bleiben wir doch bitte beim Thema, denn es ist aktuell und wichtig!
Hinweis: Dieser Artikel ist ein Beitrag der Community und spiegelt nicht notwendigerweise die Meinung der SALTO-Redaktion wider.

Alles begann mit einem zugegeben provokanten, aber – in meiner Wahrnehmung – durchaus nicht unkorrekten Artikel von Silvia Rier. In ihrer Überzeugung als Feministin (die ich im Übrigen teile) legte sie ihre Ansicht darüber dar, dass Gewalt ein absolutes No-Go sei und vor allem ein Männerspezifikum darstelle. Sie schwächte diese zentrale Aussage allerdings durch die Ergänzung ab, dass auch Frauen Gewalt ausübten, diese aber eine verschwindend geringe Zahl darstellten. Der Succus des Artikels war letztendlich eine sehr klar und berechtigt: Fordern wir nicht Mädchen und Frauen auf, sich gegen Gewalt zu wehren. Fordern wir von Jungen und Männern, diese erst gar nicht auszuüben!

Daraufhin brach ein Sturm der Entrüstung los, welcher der Autorin Pauschalverurteilungen, Oberflächlichkeit und (unglaublich!) Sexismus vorwarfen. Diese Reaktionen allein zeigen schon, wie gut die Mechanismen unserer Männerwelt funktionieren: Vertritt eine Frau vehement ihre Interessen, ist das ein Skandal – der mit zahllosen Beispielen und „Argumenten“ weit unter der Gürtellinie widerlegt gehört. Und keine Frau ist in der Lage oder der Position ihr beizustehen – abgesehen von Jutta Kußtatscher, die couragiert und rasch reagierte und den Ausschluss aus der Community im Falle von persönlichen Angriffen androhte. Keine Frage: meine Solidarität gehört in dieser Diskussion Silvia Rier. 

Aber schauen wir uns das einmal genauer an:

Silvia Riers erste angebliche Pauschalisierung war, dass sich der Rechtsruck der Jugend, den wohl kaum jemand bestreiten kann, ein männliches Phänomen sei. Betrachten wir die letzten Nationalratswahlen in Österreich, hat sie damit nicht unrecht: Umfragen haben nach den Nationalratswahlen von 2013 ergeben, dass die FPÖ vor allem junge Männer ansprach, während die Grünen und SPÖ bei Frauen besser abschnitten. Dazu ist allerdings anzumerken, dass diese Eindrücke auch nach Altersgruppe noch stark variieren. Pauschalisierung? Nein, leider Tatsache, meine Herren, aber wer kann es Ihnen vorwerfen? Unsere kapitalistische, konsumorientierte Gesellschaft pumpt vor allem junge Männer mit Zukunftsängsten um Faktoren voll, die angeblich durch irgendeine Automatik ihnen gehören (Beispiel Arbeitsplätze). Genau diese jungen Männer sind es, von denen die konservativen Logik verlangt, dass sie eines Tages eine Familie versorgt.

Reizwort Gewalt

Weiter geht es im Text mit der durchaus problematischen Aussage, Gewalt gegen (ich weite es mal auf beide Geschlechter aus) eine/n körperlich Unterlegene/n sei vor gar nicht allzu langer Zeit ein No-Go gewesen, festgeschrieben von einem zwar ungeschriebenen, „aber kein bisschen weniger ehernen Gesetz". Dessen bin ich mir gar nicht so sicher – eher scheint mir das Gegenteil der Fall: Gewalt gegen körperlich Unterlegene vor allem innerhalb der Familie war lange Zeit nicht nur Usus, sondern rechtlich sogar erlaubt. Im mitteleuropäischen Kontext wird Vergewaltigung in der Ehe erst seit Mitte/Ende der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts rechtlich sanktioniert – wobei die Auslegungen immer noch sehr breit variieren. In Deutschland liegt eine Vergewaltigung im rechtlichen Sinne dann vor, wenn der Nachweis erbracht wird, das Opfer habe sich körperlich gewehrt. Ein „stilles Leiden“ aus Angst vor weiteren Konsequenzen reicht nicht aus. Anders in Italien: Wenn das Opfer aus Angst vor weiteren Übergriffen den Geschlechtsverkehr über sich ergehen lässt, gilt dies dennoch als Vergewaltigung. In Österreich wurde Vergewaltigung in der Ehe als eine Form von Gewalt bis 2004 (!!!) in bestimmten Fällen nur auf Antrag des Opfers verfolgt. Es ist hier also je nach Gesichtspunkt entscheidend, ob wir von einer negativen (wie Silvia Rier es beschreibt) oder einer positiven Entwicklung sprechen.

Zur geschlechterspezifischen Gewalt, die Silvia Rier im Zusammenhang mit Frauenparkplätzen anspricht, lässt sich folgendes sagen: Zwischen Januar und November 2013 wurden in Italien insgesamt 128 Frauen ermordet. Ja, es gibt mehr Morde an Männern, aber das ist nicht der Punkt. Es geht vielmehr um die Beziehung zwischen Opfer und Täter/Täterin: In 48% der Fälle ist es der Ehemann, in 12% der Fälle der Mitbewohner, in 23% der Fälle der Expartner – in 63% der Fälle sind weder Drogen noch Alkohol im Spiel. Das heißt von den 128 Frauen wurden 83%, also 106, von einem Mann aus ihrer unmittelbaren Umgebung getötet. Das wiederum ergibt jeden dritten Tag eine Tote.

Nein, derartige Zusammenhänge gibt es nicht, wenn man die Morde an Männern betrachtet. Und darum geht es: Die Gefahr für Frauen geht nicht von Unbekannten, Wahnsinnigen, Drogensüchtigen oder was auch immer wem aus – so despektierlich das auch klingt – sondern aus ihrem eigenen, unmittelbaren Umfeld. Und genau das meint Silvia Rier – so scheint mir – mit ihrer starken Aussage, Gewalt sei ein Männerproblem.

Bilder und Stereotypen: Lillifee und Superman

Was hier noch mit hineinspielt, sind die zunehmend konservativen Geschlechterstereotypen unserer Zeit: Aus Pippi Langstrumpf wurde Prinzessin Lillifee, aus Bibi Blocksberg Hannah Montana. Die starken, klugen, tollen Mädchen verschwinden. Ihnen gegenüber stehen männliche Kämpfertypen, die ihre Probleme mit (Waffen)Gewalt und Körperkraft lösen: Aus Harry Potter wurde Aragon, aus Doctor Who der Halbgott Thor. Diese Stereotypen sind es auch, die es Frauen schwer machen, auf der Karriereleiter nach oben zu kommen, wohingegen Männer schwer bis gar nicht in Kindergarten oder Grundschule zu finden sind. Und wenn sie es doch wagen, in diese Zonen vorzudringen, dann werden diese (mutigen!) Menschen als karrieregeile Frauen oder pädophile Männer abgetan. Eine spannende Dokumentation über das westlich-kapitalistische Männerbild und das Tabu des männlichen Versagens wurde übrigens in den USA unter dem Titel „The Mask You Live In“ von Jennifer Siebel Newsom produziert. Voraussichtlicher Kinostart ist 2015.

Ich gehe davon aus, dass wir alle unter einengenden Schablonen leiden: Jungen, die nicht weinen dürfen, Mädchen, die im hübschen Kleidchen still sitzen müssen. Lassen wir das. Lassen wir uns nicht korrumpieren. Die Aussage, dass Gewalt ein Männerproblem ist, ist keine Pauschalisierung und kein Vorurteil. Es ist eine besorgniserregende Beobachtung, die wir gemeinsam ändern können und ändern müssen – indem wir unsere Söhne zu verantwortungsbewussten und einfühlsamen Männern und unsere Töchter zu selbstbewussten und selbstbestimmten Frauen erziehen.