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Katalonien – Wer ist das Volk?

Ein Beitrag zur Diskussion über die derzeitige Katalonienkrise
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Foto: web

Zwei Phänomene finde ich erstaunlich und ermutigend. Erstens hat es bei aller Leidenschaft, mit der die Debatten über die Zukunft Kataloniens geführt werden, bis dato keine gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen Separatisten und Unionisten in Katalonien gegeben – selbst bei den Kundgebungen von mehreren hunderttausend Demonstranten. Zumindest bisher ging – bis auf vereinzelte und geringfügige Zwischenfälle - alles vollkommen friedfertig zu.

Ebenso erstaunlich und beruhigend finde ich die Tatsache, dass der Independentismus bislang ohne Zuspitzung auf das Ethnische, auf die meist mit separatistischen Bewegungen einhergehende ethnische Selbstüberhöhung und rassistisch-nationalistische Abwertung „der Anderen“, „des Staatsvolkes“ usw. geblieben ist. Anstatt dessen gibt es reihenweise Berichte und Interviews, die belegen, dass der Richtungsstreit über Unabhängigkeit Ja oder Nein quer durch die Familien geht. Das führt aber gleich zur nächsten Frage.

 

Wer ist das katalanische Volk?

 
Neben der Frage der Steuerhoheit war der katalanische Wunsch, dass Katalonien als Nation im Autonomiestatut von 2006 festgeschrieben werde, ein Hauptgrund dafür, dass Mariano Rajoy wegen Verletzung der spanischen Verfassung die Annullierung des Statuts erwirken konnte. Und das obwohl das Parlament in Madrid es abgesegnet, die Katalanen per Referendum zugestimmt und der König es schon unterzeichnet hatte! Aber: dieses neue und erweiterte Autonomiestatut war in der Zeit der sozialistischen Regierung Zapatero beschlossen worden. Die Konservativen unter Rajoy gingen erfolgreich vor das Verfassungsgericht - also gilt wieder das weniger vorteilhafte, aber immer noch sehr umfassende Statut aus dem Jahr 1978 (mit Gleichstellung der Sprachen, regionaler Verwaltungskompetenz in den meisten Bereichen und sogar autonomer Polizei). Und es waren auch der Wahlsieg der Konservativen Ende 2011 und die unnachgiebige Haltung Rajoys in den Verhandlungen um den regional-staatlichen Finanzausgleich, die zu einer bis dahin nicht gekannten Wende hin zum Separatismus der Führung in Katalonien führten. (Siehe „Süddeutsche Zeitung“)
 
Sowohl die autonomistischen als auch die separatistischen Katalanen bezeichnen sich als Angehörige der katalanischen Nation, verstehen diese aber nicht vordergründig ethnisch, sondern im Sinne einer Kulturnation: gemeinsame Geschichte, gemeinsame Sprache, Kultur, Sitten und Traditionen. Aus für jene Zeit üblichen wechselhaften Zugehörigkeiten zu verschiedenen Herrschaftsbereichen entstand im 12. Jahrhundert aus der Vereinigung aragonesischer und katalanischer Grafschaften eine territoriale Entität Katalonien – das Principat de Catalunya, das sich größtenteils mit dem heutigen Katalonien deckt.
Nach Daten des katalanischen Statistikamtes erklärten 2013 von den 7,5 Millionen Einwohnern nicht ganz 2,3 Millionen, dass sie vorwiegend Katalanisch sprechen. 3,17 Millionen gaben Kastilisch als Hauptsprache an und rund 400tausend sagten, sie verwendeten beide Sprachen gleich. Also stehen 30% Katalanisch Bevorzugenden 42% Kastilisch-Sprecher gegenüber, 5% verwenden beide Sprachen gleich gerne und hinzu kommen noch mehrere Hunderttausend (vor allem Immigranten), die arabisch und andere Sprachen bevorzugen, aber meist über mehr oder weniger gute Kenntnisse in Kastilisch und Katalanisch verfügen. In Barcelona und den übrigen größeren Städten wird bis zu 75% kastilisch gesprochen, am Land in der Regel zwischen 50 und 70% katalanisch. Im Behörden- und Geschäftsverkehr ist catalá Pflicht bzw. unumgänglich, der Schul- und Hochschulunterricht erfolgt vorwiegend auf Katalanisch, Kastilischunterricht ist Pflicht – zweimal wöchentlich in den unteren Schulstufen. Allerdings gibt es seit langem Klagen, dass am Lande der spanisch-kastilische Unterricht extrem vernachlässigt werde. Katalanische Medien aller Art sind sehr gut entwickelt, trotzdem überwiegt in den urbanen Zentren der Konsum gesamtspanischer Medien.

 

Die Nation und das Selbstbestimmungsrecht

 
Das „Selbstbestimmungsrecht der Völker“ ist in der Charta der Vereinten Nationen (1945) verbrieft und universell gültig. Allerdings hat die Definition des Selbstbestimmungsrechts im Lauf der letzten zwei Jahrhunderte je nach politisch-historischer Lage vielfältige Veränderungen und Anpassungen erfahren.
Als die dreizehn amerikanischen Kolonien (entscheidend unterstützt von den napoleonischen, damals noch republikanischen Truppen Frankreichs) 1782 im Unabhängigkeitskrieg die britische Kolonialmacht besiegten, ging es sehr wohl um Selbstbestimmung, aber keineswegs um eine ethnisch-kulturell-nationale. Der American Revolutionary War, wie der Unabhängigkeitskrieg bis heute auch genannt wird, war in erster Linie der Kampf für die Souveränität und Selbstbestimmung des Volkes gegen die dynastisch gerechtfertigte Macht des Adels und der britischen Krone. Dementsprechend wurde auch keine amerikanische Nation ausgerufen, sondern eine Konföderation von Staaten, die sich dann zu den USA fortentwickelt hat.
 
Im 19. Jahrhundert erfolgte die Herausbildung des nationalen Bewusstseins und der nationalen Befreiungs- und Einigungsbewegungen Hand in Hand mit den Revolutionen der Bürger, Arbeiter und Bauern (des 3. Standes) gegen die feudale Adelsherrschaft. Führend und beispielgebend waren dabei die französischen Revolutionen 1789, 1830 und 1848. Aber neben dem Ruf nach Rechten, Verfassungen oder gar der Republik erwachte auch der Drang, staatliche Fremdherrschaft abzuschütteln. Den durch Kriege, Bündnisse und Verheiratung der Adelsgeschlechter geschaffenen Fürstentümern und Vielvölker-Staatsgebilden wurde die Idee der Staatenbildung nach ethnisch-nationalen Kriterien entgegengestellt. 1848/49 erschütterten diese Revolutionen ganz Europa von Frankreich über die Staaten des Deutschen Bundes, die Habsburgermonarchie und Italien. Der Risorgimento und die Carbonari mit Mazzini und Garibaldi verkörperten diese Verbindung des Wunsches nationaler Vereinigung und Souveränität mit der republikanischen Revolution deutlicher als andere. Wie sich das nationale Erwachen gegen Ende des 19. und schließlich im 20. Jahrhundert zum chauvinistisch-rassistisch übersteigerten Nationalismus entwickelt hat, wäre eine andere, lange Geschichte. Aber zurück zu Katalonien.

 

Katalonien als eigener Staat?

 

Ob bei Wladimir I.Lenin, US-Präsident Woodrow Wilson oder in der UN-Charta, das Kernstück des Selbstbestimmungsrechts zielt im Wesentlichen immer darauf ab, Völkern durch Sezession von Staaten und neuer Staatsgründung zu ermöglichen, sich von Unterdrückung und Fremdherrschaft zu befreien – ob von ethnisch-kultureller, militärischer oder kolonialer Fremdherrschaft. Dass historisch in der Realpolitik durch Abtrennung, Zusammenlegung, Grenzziehung und häufig sogar Umsiedlung Macht- und Geopolitik ohne Rücksicht auf die Interessen der jeweiligen Völker gemacht wurde, muss man auch betonen.

 

Im Falle des heutigen Kataloniens stellt sich die Frage, inwieweit man von Fremdherrschaft und Unterdrückung durch den spanischen Staat oder die Mehrheitsbevölkerung sprechen kann. Die nationale, sprachliche, kulturelle Autonomie ist jedenfalls so großzügig angelegt, dass – wie schon erwähnt – eher Befürchtungen bestehen, im Unterschied zu früheren Zeiten und vor allem der Franco-Diktatur zeige sich derzeit ein Trend in Richtung einer nicht ganz freiwilligen kulturellen „Katalanisierung“. Was hingegen offenbar nach wie vor stimmt und wohl eine Triebfeder für das Anwachsen des katalanischen Separatismus in jüngster Zeit darstellt, ist der spanische Zentralismus in wirtschaftlich-administrativer Hinsicht.
Es stellt sich die Frage, ob diese oft diskriminierende und herablassende Gängelung durch Madrid, vor allem seit Mariano Rajoy an der Regierung ist, ein so gravierendes Motiv für die Loslösung von Spanien ist.
Nun stellt sich die Frage, ob diese oft diskriminierende und herablassende Gängelung durch Madrid, vor allem seit Mariano Rajoy an der Regierung ist, ein so gravierendes Motiv für die Loslösung von Spanien ist. Ganz unabhängig davon, ob es Katalonien als neugeborenen Kleinstaat (selbst wenn ihn die EU anerkennen und aufnehmen würde) wirtschaftlich und politisch wirklich besser gehen würde, stellt sich ebenso die Frage der inneren Demokratie. Alle Umfragen sowie Referenden und Wahlen der letzten paar Jahre zeigen ein zweigeteiltes Katalonien mit schwankenden Werten um jeweils ca. 48% pro und contra Eigenstaatlichkeit. Würde im Falle einer Sezession dann jenen Katalanen, die sich für einen Verbleib bei Spanien ausgesprochen haben, ihre Zugehörigkeit zur „authentischen katalanischen Nation“ abgesprochen? Wären sie dann unpatriotische Katalanen zweiter Klasse, weil sie doch lieber Kastilisch sprechen und den kosmopolitischen Charme Barcelonas und Madrids der ländlichen Verbundenheit in den Dörfern und Bergen vorziehen? Und würden nicht jene 50+1 Prozent abstimmender sezessionistischen Katalanen im neuen Kleinstaat erst recht wieder eine 49-Prozent-Minderheit schaffen? Nämlich jener Hälfte der Einwohner, die sich eben als Katalanen und Spanier fühlen und fühlen wollen?
Die Geschichte lehrt, dass ethnisch homogene Staaten zu bilden, realistisch nicht möglich ist – außer mit Umsiedlungen, ethnischer Säuberung und Massakern. Umso schwieriger in Katalonien, wo ja selbst die Separatisten sich nicht auf ihre Ethnie berufen wollen, sondern angeblich lediglich auf eine historisch gewachsene, kulturelle und regionale Eigenständigkeit. Damit sind wir aber nicht mehr weit von der padanischen, der venetianischen, der triestinischen Selbstbehauptungs-Identität entfernt. Sollte also jede Region mit (eigentlich selbstverständlicherweise) starken historischen Wurzeln, regionalen Dialekten und Wesenseigenheiten einen eigenen Staat bilden? Landen wir dann beim Kampf der Sarner gegen die Unterlandler, der Vinschger gegen die Puschterer und alle gemeinsam gegen die Boazner? Bayerisch, Vorarlbergerisch und Wienerisch als verfassungsmäßig verbriefte Amtssprachen?

 

Das Ende des Nationalstaates, Europa der Regionen und der Regionalpartikularismus

 
Es ist unwiderlegbar, dass das Gewicht und die Bedeutung des Nationalstaates durch die Globalisierung der letzten Jahrzehnte stark relativiert wurden. Ebenso schön und richtig ist die Vision eines Europas der Regionen, in dem durch Dezentralisierung und Subsidiaritätsprinzip die Bürger stärker in die Gestaltung des Gemeinwesens eingebunden werden. Aber eine stärkere Regionalisierung der demokratischen Entscheidungsprozesse kann nur erfolgreich sein, wenn Europa zugleich gestärkt wird, nicht geschwächt. Der Nationalstaat kann zunehmend überwunden werden, wenn sich die Europäer zu einer gemeinsamen, gesetzlich bindenden Fiskal-, Sozial-, Umwelt- und Sicherheitspolitik durchringen. Das ist auch Voraussetzung dafür, dass ein starkes und geeintes Europa nicht nur im weltweiten Konkurrenzkampf bestehen kann, sondern dass es auch eine Chance hat, mit der Forderung nach einer dringend notwendigen Regulierung, Lenkung und Bändigung des global entfesselten Turbo-Finanzkapitalismus Gehör zu finden.
 
Und was sehen wir stattdessen? Eine Renationalisierung der Politik. Von Trump-Amerika über Frankreich, Flandern, den Niederlanden, Österreich bis in die ex-kommunistischen neuen EU-Mitglieder lauten der Schlachtruf und die Heilsversprechung „Unsere Nation zuerst!“ Ob „America first“, „Les Francais d`abord“ oder „Österreicher zuerst“ – allerorts wird die Nation als schützendes Bollwerk vor den Bedrohungen der bösen Welt da draußen und den Gefahren einer ungewissen Zukunft gepriesen.
Wesensverwandt damit sind schließlich auch die allseits erwachenden und sprießenden Autonomieforderungen, Lokalpartikularismen und Sezessionsbestrebungen. Denn in den allermeisten Fällen geht es dabei nicht um eine gerechtere, demokratischere Gestaltung eines großen und gestärkten Gemeinwesens im Sinne eines Willensstaates, also eines bewusst geschlossenen Bundes. Nein, vom Veneto über die Lombardei bis hin zu Katalonien geht es vor allem um eine Entsolidarisierung vom großen Ganzen zur Erzielung des eigenen Vorteils.