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Katalonien – Wer ist das Volk?

Ein Beitrag zur Diskussion über die derzeitige Katalonienkrise
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Zwei Phänomene finde ich erstaunlich und ermutigend. Erstens hat es bei aller Leidenschaft, mit der die Debatten über die Zukunft Kataloniens geführt werden, bis dato keine gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen Separatisten und Unionisten in Katalonien gegeben – selbst bei den Kundgebungen von mehreren hunderttausend Demonstranten. Zumindest bisher ging – bis auf vereinzelte und geringfügige Zwischenfälle - alles vollkommen friedfertig zu.

Ebenso erstaunlich und beruhigend finde ich die Tatsache, dass der Independentismus bislang ohne Zuspitzung auf das Ethnische, auf die meist mit separatistischen Bewegungen einhergehende ethnische Selbstüberhöhung und rassistisch-nationalistische Abwertung „der Anderen“, „des Staatsvolkes“ usw. geblieben ist. Anstatt dessen gibt es reihenweise Berichte und Interviews, die belegen, dass der Richtungsstreit über Unabhängigkeit Ja oder Nein quer durch die Familien geht. Das führt aber gleich zur nächsten Frage.

 

Wer ist das katalanische Volk?

 
Neben der Frage der Steuerhoheit war der katalanische Wunsch, dass Katalonien als Nation im Autonomiestatut von 2006 festgeschrieben werde, ein Hauptgrund dafür, dass Mariano Rajoy wegen Verletzung der spanischen Verfassung die Annullierung des Statuts erwirken konnte. Und das obwohl das Parlament in Madrid es abgesegnet, die Katalanen per Referendum zugestimmt und der König es schon unterzeichnet hatte! Aber: dieses neue und erweiterte Autonomiestatut war in der Zeit der sozialistischen Regierung Zapatero beschlossen worden. Die Konservativen unter Rajoy gingen erfolgreich vor das Verfassungsgericht - also gilt wieder das weniger vorteilhafte, aber immer noch sehr umfassende Statut aus dem Jahr 1978 (mit Gleichstellung der Sprachen, regionaler Verwaltungskompetenz in den meisten Bereichen und sogar autonomer Polizei). Und es waren auch der Wahlsieg der Konservativen Ende 2011 und die unnachgiebige Haltung Rajoys in den Verhandlungen um den regional-staatlichen Finanzausgleich, die zu einer bis dahin nicht gekannten Wende hin zum Separatismus der Führung in Katalonien führten. (Siehe „Süddeutsche Zeitung“)
 
Sowohl die autonomistischen als auch die separatistischen Katalanen bezeichnen sich als Angehörige der katalanischen Nation, verstehen diese aber nicht vordergründig ethnisch, sondern im Sinne einer Kulturnation: gemeinsame Geschichte, gemeinsame Sprache, Kultur, Sitten und Traditionen. Aus für jene Zeit üblichen wechselhaften Zugehörigkeiten zu verschiedenen Herrschaftsbereichen entstand im 12. Jahrhundert aus der Vereinigung aragonesischer und katalanischer Grafschaften eine territoriale Entität Katalonien – das Principat de Catalunya, das sich größtenteils mit dem heutigen Katalonien deckt.
Nach Daten des katalanischen Statistikamtes erklärten 2013 von den 7,5 Millionen Einwohnern nicht ganz 2,3 Millionen, dass sie vorwiegend Katalanisch sprechen. 3,17 Millionen gaben Kastilisch als Hauptsprache an und rund 400tausend sagten, sie verwendeten beide Sprachen gleich. Also stehen 30% Katalanisch Bevorzugenden 42% Kastilisch-Sprecher gegenüber, 5% verwenden beide Sprachen gleich gerne und hinzu kommen noch mehrere Hunderttausend (vor allem Immigranten), die arabisch und andere Sprachen bevorzugen, aber meist über mehr oder weniger gute Kenntnisse in Kastilisch und Katalanisch verfügen. In Barcelona und den übrigen größeren Städten wird bis zu 75% kastilisch gesprochen, am Land in der Regel zwischen 50 und 70% katalanisch. Im Behörden- und Geschäftsverkehr ist catalá Pflicht bzw. unumgänglich, der Schul- und Hochschulunterricht erfolgt vorwiegend auf Katalanisch, Kastilischunterricht ist Pflicht – zweimal wöchentlich in den unteren Schulstufen. Allerdings gibt es seit langem Klagen, dass am Lande der spanisch-kastilische Unterricht extrem vernachlässigt werde. Katalanische Medien aller Art sind sehr gut entwickelt, trotzdem überwiegt in den urbanen Zentren der Konsum gesamtspanischer Medien.

 

Die Nation und das Selbstbestimmungsrecht

 
Das „Selbstbestimmungsrecht der Völker“ ist in der Charta der Vereinten Nationen (1945) verbrieft und universell gültig. Allerdings hat die Definition des Selbstbestimmungsrechts im Lauf der letzten zwei Jahrhunderte je nach politisch-historischer Lage vielfältige Veränderungen und Anpassungen erfahren.
Als die dreizehn amerikanischen Kolonien (entscheidend unterstützt von den napoleonischen, damals noch republikanischen Truppen Frankreichs) 1782 im Unabhängigkeitskrieg die britische Kolonialmacht besiegten, ging es sehr wohl um Selbstbestimmung, aber keineswegs um eine ethnisch-kulturell-nationale. Der American Revolutionary War, wie der Unabhängigkeitskrieg bis heute auch genannt wird, war in erster Linie der Kampf für die Souveränität und Selbstbestimmung des Volkes gegen die dynastisch gerechtfertigte Macht des Adels und der britischen Krone. Dementsprechend wurde auch keine amerikanische Nation ausgerufen, sondern eine Konföderation von Staaten, die sich dann zu den USA fortentwickelt hat.
 
Im 19. Jahrhundert erfolgte die Herausbildung des nationalen Bewusstseins und der nationalen Befreiungs- und Einigungsbewegungen Hand in Hand mit den Revolutionen der Bürger, Arbeiter und Bauern (des 3. Standes) gegen die feudale Adelsherrschaft. Führend und beispielgebend waren dabei die französischen Revolutionen 1789, 1830 und 1848. Aber neben dem Ruf nach Rechten, Verfassungen oder gar der Republik erwachte auch der Drang, staatliche Fremdherrschaft abzuschütteln. Den durch Kriege, Bündnisse und Verheiratung der Adelsgeschlechter geschaffenen Fürstentümern und Vielvölker-Staatsgebilden wurde die Idee der Staatenbildung nach ethnisch-nationalen Kriterien entgegengestellt. 1848/49 erschütterten diese Revolutionen ganz Europa von Frankreich über die Staaten des Deutschen Bundes, die Habsburgermonarchie und Italien. Der Risorgimento und die Carbonari mit Mazzini und Garibaldi verkörperten diese Verbindung des Wunsches nationaler Vereinigung und Souveränität mit der republikanischen Revolution deutlicher als andere. Wie sich das nationale Erwachen gegen Ende des 19. und schließlich im 20. Jahrhundert zum chauvinistisch-rassistisch übersteigerten Nationalismus entwickelt hat, wäre eine andere, lange Geschichte. Aber zurück zu Katalonien.

 

Katalonien als eigener Staat?

 

Ob bei Wladimir I.Lenin, US-Präsident Woodrow Wilson oder in der UN-Charta, das Kernstück des Selbstbestimmungsrechts zielt im Wesentlichen immer darauf ab, Völkern durch Sezession von Staaten und neuer Staatsgründung zu ermöglichen, sich von Unterdrückung und Fremdherrschaft zu befreien – ob von ethnisch-kultureller, militärischer oder kolonialer Fremdherrschaft. Dass historisch in der Realpolitik durch Abtrennung, Zusammenlegung, Grenzziehung und häufig sogar Umsiedlung Macht- und Geopolitik ohne Rücksicht auf die Interessen der jeweiligen Völker gemacht wurde, muss man auch betonen.

 

Im Falle des heutigen Kataloniens stellt sich die Frage, inwieweit man von Fremdherrschaft und Unterdrückung durch den spanischen Staat oder die Mehrheitsbevölkerung sprechen kann. Die nationale, sprachliche, kulturelle Autonomie ist jedenfalls so großzügig angelegt, dass – wie schon erwähnt – eher Befürchtungen bestehen, im Unterschied zu früheren Zeiten und vor allem der Franco-Diktatur zeige sich derzeit ein Trend in Richtung einer nicht ganz freiwilligen kulturellen „Katalanisierung“. Was hingegen offenbar nach wie vor stimmt und wohl eine Triebfeder für das Anwachsen des katalanischen Separatismus in jüngster Zeit darstellt, ist der spanische Zentralismus in wirtschaftlich-administrativer Hinsicht.
Es stellt sich die Frage, ob diese oft diskriminierende und herablassende Gängelung durch Madrid, vor allem seit Mariano Rajoy an der Regierung ist, ein so gravierendes Motiv für die Loslösung von Spanien ist.
Nun stellt sich die Frage, ob diese oft diskriminierende und herablassende Gängelung durch Madrid, vor allem seit Mariano Rajoy an der Regierung ist, ein so gravierendes Motiv für die Loslösung von Spanien ist. Ganz unabhängig davon, ob es Katalonien als neugeborenen Kleinstaat (selbst wenn ihn die EU anerkennen und aufnehmen würde) wirtschaftlich und politisch wirklich besser gehen würde, stellt sich ebenso die Frage der inneren Demokratie. Alle Umfragen sowie Referenden und Wahlen der letzten paar Jahre zeigen ein zweigeteiltes Katalonien mit schwankenden Werten um jeweils ca. 48% pro und contra Eigenstaatlichkeit. Würde im Falle einer Sezession dann jenen Katalanen, die sich für einen Verbleib bei Spanien ausgesprochen haben, ihre Zugehörigkeit zur „authentischen katalanischen Nation“ abgesprochen? Wären sie dann unpatriotische Katalanen zweiter Klasse, weil sie doch lieber Kastilisch sprechen und den kosmopolitischen Charme Barcelonas und Madrids der ländlichen Verbundenheit in den Dörfern und Bergen vorziehen? Und würden nicht jene 50+1 Prozent abstimmender sezessionistischen Katalanen im neuen Kleinstaat erst recht wieder eine 49-Prozent-Minderheit schaffen? Nämlich jener Hälfte der Einwohner, die sich eben als Katalanen und Spanier fühlen und fühlen wollen?
Die Geschichte lehrt, dass ethnisch homogene Staaten zu bilden, realistisch nicht möglich ist – außer mit Umsiedlungen, ethnischer Säuberung und Massakern. Umso schwieriger in Katalonien, wo ja selbst die Separatisten sich nicht auf ihre Ethnie berufen wollen, sondern angeblich lediglich auf eine historisch gewachsene, kulturelle und regionale Eigenständigkeit. Damit sind wir aber nicht mehr weit von der padanischen, der venetianischen, der triestinischen Selbstbehauptungs-Identität entfernt. Sollte also jede Region mit (eigentlich selbstverständlicherweise) starken historischen Wurzeln, regionalen Dialekten und Wesenseigenheiten einen eigenen Staat bilden? Landen wir dann beim Kampf der Sarner gegen die Unterlandler, der Vinschger gegen die Puschterer und alle gemeinsam gegen die Boazner? Bayerisch, Vorarlbergerisch und Wienerisch als verfassungsmäßig verbriefte Amtssprachen?

 

Das Ende des Nationalstaates, Europa der Regionen und der Regionalpartikularismus

 
Es ist unwiderlegbar, dass das Gewicht und die Bedeutung des Nationalstaates durch die Globalisierung der letzten Jahrzehnte stark relativiert wurden. Ebenso schön und richtig ist die Vision eines Europas der Regionen, in dem durch Dezentralisierung und Subsidiaritätsprinzip die Bürger stärker in die Gestaltung des Gemeinwesens eingebunden werden. Aber eine stärkere Regionalisierung der demokratischen Entscheidungsprozesse kann nur erfolgreich sein, wenn Europa zugleich gestärkt wird, nicht geschwächt. Der Nationalstaat kann zunehmend überwunden werden, wenn sich die Europäer zu einer gemeinsamen, gesetzlich bindenden Fiskal-, Sozial-, Umwelt- und Sicherheitspolitik durchringen. Das ist auch Voraussetzung dafür, dass ein starkes und geeintes Europa nicht nur im weltweiten Konkurrenzkampf bestehen kann, sondern dass es auch eine Chance hat, mit der Forderung nach einer dringend notwendigen Regulierung, Lenkung und Bändigung des global entfesselten Turbo-Finanzkapitalismus Gehör zu finden.
 
Und was sehen wir stattdessen? Eine Renationalisierung der Politik. Von Trump-Amerika über Frankreich, Flandern, den Niederlanden, Österreich bis in die ex-kommunistischen neuen EU-Mitglieder lauten der Schlachtruf und die Heilsversprechung „Unsere Nation zuerst!“ Ob „America first“, „Les Francais d`abord“ oder „Österreicher zuerst“ – allerorts wird die Nation als schützendes Bollwerk vor den Bedrohungen der bösen Welt da draußen und den Gefahren einer ungewissen Zukunft gepriesen.
Wesensverwandt damit sind schließlich auch die allseits erwachenden und sprießenden Autonomieforderungen, Lokalpartikularismen und Sezessionsbestrebungen. Denn in den allermeisten Fällen geht es dabei nicht um eine gerechtere, demokratischere Gestaltung eines großen und gestärkten Gemeinwesens im Sinne eines Willensstaates, also eines bewusst geschlossenen Bundes. Nein, vom Veneto über die Lombardei bis hin zu Katalonien geht es vor allem um eine Entsolidarisierung vom großen Ganzen zur Erzielung des eigenen Vorteils.
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Mensch Ärgerdi… Mi., 01.11.2017 - 13:23

Solidarität sollte als Hilfe für Jene verstanden werden die ohne Schuld in Not geraten sind, gerne auch als Starthilfe für jene die noch nicht ein gewisses Niveau erreicht haben. Das Problem liegt darin, dass Solidarität als Pflicht der Tüchtigen die weniger Tüchtigen zu unterstützen missverstanden wird!

Mi., 01.11.2017 - 13:23 Permalink
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Christoph Moar Mi., 01.11.2017 - 13:44

Antwort auf von Mensch Ärgerdi…

Der Blick auf die "Tüchtigen" versus den "Untüchtigen" verstellt die Sicht auf das Wesen der Solidarität. In einer Familie gibt es den tüchtigeren und den weniger tüchtigen Bruder. Es gibt den, der die schlechteren Voraussetzungen hatte, den, der die falschen Freunde hatte, den, der einfach Pech hatte, und auch den, der auf dem falschen Weg landete. In den meisten Familien hilft man sich aus, so oder so. Unsere europäischen Solidarsysteme funktionieren nach dem gleichen Prinzip.

Mi., 01.11.2017 - 13:44 Permalink
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Mensch Ärgerdi… Mi., 01.11.2017 - 14:42

Antwort auf von Christoph Moar

Die Frage ist eben ob so ein System auf erzwungen werden kann. Nach ein halbes Jahrhundert Hilfe kann man es Norditalien nicht verübeln wenn es keinen Bock mehr hat für den Süden zu schuften. Hilfe hat sich nicht als Lösung sondern als das Problem selbst hergestellt. Das Bündnis einer Familie mit dem des Staates zu vergleichen ist in solch einen Zusammenhang lächerlich, aber sogar dort kann ein jeder gehen wenn es ihm nicht mehr passt.

Mi., 01.11.2017 - 14:42 Permalink
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Christoph Moar Mi., 01.11.2017 - 17:03

Antwort auf von Mensch Ärgerdi…

Nein, da verstehst du mich falsch. Ich vergleiche die Familie mit einer Solidargemeinschaft, weil du jene in Frage gestellt hast. Das Bündnis einer Familie mit einer Solidargemeinschaft zu vergleichen, ist nicht lächerlich. Im Gegenteil. Die Familie ist die kleinste Einheit der Solidargemeinschaft, die unsere Gesellschaften kennen. Wer dafür plädiert, dass jeder jederzeit aus einer Solidargemeinschaft austreten kann, landet ganz schnell bei neoliberalen Ellebogendenken. Dafür steht unsere Kultur, und ganz Europa, nicht.
Hilfe ist nie das Problem. Das Problem sind immer nur Menschen, die Hilfe mißwirtschaften und mißbrauchen. Der Bruder, in der Familie, der die falschen Freunde hat und absäuft. Im demokratischen System sind das vielleicht die Politiker, die den Finanzausgleich nicht besser anzuwenden verstehen. Aus dieser Gruppe eine Sippenhaft für die ganze Bevölkerung ("den Süden") zu konstruieren, ist nicht klug.

Mi., 01.11.2017 - 17:03 Permalink
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Christoph Moar Mi., 01.11.2017 - 18:31

Antwort auf von Mensch Ärgerdi…

Die Reportage lasse ich sicher gelten. Entwicklungshilfe hat mit den genannten Solidargemeinschaften nichts zu tun. Entwicklungshilfe kannst du leisten, wenn du magst, und damit aufhören, wenn du nicht magst. Eine Solidargemeinschaft ist was anderes. Jeder ist verpflichtet mitzumachen, um die Gemeinschaft selbst zu erhalten, auch wenn es dem Nettozahler blöd vorkommt.

Mi., 01.11.2017 - 18:31 Permalink
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Mensch Ärgerdi… Mi., 01.11.2017 - 19:21

Antwort auf von Christoph Moar

Ganz genau! Jeder ist verpflichtet mitzumachen, wer es nicht tut schließt sich selbst aus der Gemeinschaft aus und da er nicht rausgeschmissen werden kann, gehen die anderen. Das Mitmachen sollte die Pflicht begründen und legitimieren und nicht einfache Striche auf der Landkarte.

Mi., 01.11.2017 - 19:21 Permalink
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Harald Knoflach Mi., 01.11.2017 - 16:52

eine wohltat in der so aufgeheizten debatte solch differenzierende artikel zu lesen. sollte eigentlich der normalfall sein. ist es aber leider nicht. wenngleich ich nicht mit allen schlüssen des autors übereinstimme, ist das das niveau, auf dem wir diskutieren sollten. danke für diesen text.

ein paar anmerkungen:
- die friedfertigkeit der zivilgesellschaft auf beiden seiten ist bewundernswert - abgesehen von einigen hitzköpfen auf der einen und den durch rechtsextreme falangisten unterwanderten pro-spanien protest auf der anderen seite. am tag der abstimmung gab es von seiten des staates jedoch massive gewalt gegen friedfertige bürgerinnen und bürger
- aufgrund der sprachlichen verteilung sind in unter den sezessionisten auch sehr viele bürger kastilischer muttersprache (anders geht die rechnung nicht auf). die befürchtung der "bürger zweiter klasse" teile ich nicht, zumal das katalanische schulsystem laut erhebungen des madrider unterrichtsministeriums perfekt zweisprachige (katalanisch und kastilisch) bürger produziert.
- "Die Geschichte lehrt, dass ethnisch homogene Staaten zu bilden, realistisch nicht möglich ist." der autor schreibt doch selbst zu beginn, dass die katalanische unabhängigkeitsbewegung das gar nicht möchte. sie ist nicht ethnisch begründet und will dezidiert keinen ethnisch homogenen staat - im gegenteil.
- "Aber eine stärkere Regionalisierung der demokratischen Entscheidungsprozesse kann nur erfolgreich sein, wenn Europa zugleich gestärkt wird, nicht geschwächt." von seiten der katalanischen regierung wurde mehrfach betont, dass sie ein mehr - nicht ein weniger - an europäischer integration wünschen.
- "Wesensverwandt damit sind schließlich auch die allseits erwachenden und sprießenden Autonomieforderungen, Lokalpartikularismen und Sezessionsbestrebungen." nicht notwendigerweise - wie auch das beispiel schottland zeigt, das sozialer, ökologischer und europafreundlicher ist als der uk als ganzes.
- "im Sinne eines Willensstaates" - das katalanische gesellschaftsverständnis kommt einem willensstaat sehr nahe. zitat puigdemont: "katalane ist, wer in katalonien lebt und arbeitet."
- "geht es vor allem um eine Entsolidarisierung vom großen Ganzen" - katalonien wäre - wenn sie ihr ziel ein eigenständiger staat innerhalb der eu zu sein erreichen - nettozahler und nicht - wie spanien derzeit - nettoempfänger. wirtschaft ist zwar ein argument - aber beileibe nicht das einzige. dennoch wird den katalanen egoismus vorgeworfen. gleichzeitig ist eines der hauptargumente der unionisten, dass katalonien ein wirtschaftlicher abstieg bevorstünde, sollten sie sich abspalten. plötzlich zählen wirtschaftliche argumente also doch, oder wie?

Mi., 01.11.2017 - 16:52 Permalink
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Martin Daniel Mi., 01.11.2017 - 21:06

Wirtschaftliche Aspekte mögen sicher eine Rolle spielen, aber wir unterschätzen die psycho-emotionalen Aspekte in der Angelegenheit. Wie in der fußballerischen Rivalität zwischen Blau-Grana und Meringes herrscht anscheinend ein großflächlicher Hass zwischen Katalonien und dessen einziger Weltstadt, Barcelona, im Besonderen auf der einen und Madrid auf der anderen Seite vor. Ein Hass, der ins Franco-Regime zurückgeht und von dem die Maueraufschriften "puta Madriz" in Barcelona allseits zeugen. Viele Barceloneten ertragen das Gefühl der Heterodetermination aus der Hauptstadt nicht. Zufall, dass die Lieblingsmannschaft Francos diesselbe war, wie jene Rajoys? (Real) Madrid steht für "rule the (spanish) world" und alles ordne sich unter. Der Zentralismus Madrids scheint gewisse Fascho-Züge fortzuschreiben, hierfür möchte ich auf den ausgezeichneten Gastkommentar des ex-RAI-Chefs Wolfgang Mayr in der ff als Replik auf die banalen Schlussfolgerungen unseres ZEIT-Botschafters Ulrich Ladurner verweisen: https://www.ff-bz.com/politik-wirtschaft/politik/2017-43/droge-des-zent…
Der Succus: Rajoy und sein Partido Popular mit seinem Zugriff aufs Verfassungsgericht sind Hauptursache der aktuellen Entwicklung in Katalonien.

Mi., 01.11.2017 - 21:06 Permalink
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Harald Knoflach Do., 02.11.2017 - 08:26

Antwort auf von Martin Daniel

@martin daniel
ich sehe das ähnlich. ich war vor 10 tagen in barcelona, bin zufällig in eine demo mit 450.000 menschen geraten und habe auch sonst versucht, die situation zu beobachten.
wobei gerade in barcelona das "katalane sein" und die feindschaft zu madrid nicht an die katalanische sprache gekoppelt ist. im öffentlichen leben in barcelona wird fast nur kastilisch gesprochen. katalanisch - abgesehen von den aufschriften - hab ich kaum wahrgenommen.
das spiel des fc barcelona, das wir besucht haben, war eine politische veranstaltung und manifest dessen, was du oben beschreibst. vor dem spiel verlas ein vereinssprecher ein offizielles statement (auf katalanisch), in dem die aktivierung des artikels 155 durch madrid verurteilt wurde und man sich als fcb solidarisch mit dem "friedlichen und demokratischen prozess" erklärte. daneben gab es während des ganzen spiels immer wieder sprechchöre mit politischen parolen - besonders natürlich in minute 17 und 14 sekunden.
dass der konflikt auch mit antifranquismus zu tun hat ist klar. die fascho-symbolik ist evident. rajoys partei, der partito popular wurde von franquisten gegründet und tut sich bisweilen bis heute schwer, sich vom faschismus zu distanzieren (https://elpais.com/diario/2008/05/09/espana/1210284017_850215.html). die guardia civil, die zur "verteidigung der demokratie" am 1. oktober geschickt wurde und die 1981 selbst noch eben diese demokratie stürzen und spanien wieder zu einem faschistischen staat machen wollte, war unter franko die mannschaft für's grobe. juan josé gonzález rivas, der vorsitzende des verfassungsgerichts, welches die verfassung konsequent zentralistisch auslegt (aufhebung des katalanischen stierkampfverbotes, verbot des referendums zur unabhängigkeit usw.) ist ein ehemaliger pp-parteigänger.
was ladurner bislang über den katalonien-konflikt geschrieben hat ist in der tat an oberflächlichkeit kaum zu überbieten. da lob ich mir artikel wie den obigen von herrn gallmetzer.

Do., 02.11.2017 - 08:26 Permalink
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maximilian kollmann Do., 02.11.2017 - 15:00

»… ob es Katalonien als neugeborenen Kleinstaat …«
Ich verstehe nicht warum man »Kleinstaaten« immer als nicht lebensfähig katalogisiert. Katalonien hat etwa 7,5 Mio Einwohnen, Österreich knapp 9, Lettland 2 und Luxemburg 600.000 …

Do., 02.11.2017 - 15:00 Permalink
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Sepp.Bacher Do., 02.11.2017 - 17:08

Antwort auf von maximilian kollmann

Weitere neun EU-Staaten hätten weniger Einwohner als Katalonien: Finnland 5.5 Mill., Estland 1,3 Mill., Litauen 2.9 Mill., Slowakei 5,4 Mill., Bulgarien 7,1 Mill., Kroatien 4,2 Mill., Slowenien 2,1 Mill., Irland 4, 8 Mill. und Dänemark 5,7 Mill.. Katalonien wäre auch wirtschaftlich stärker als die meisten genannten Staaten.

Do., 02.11.2017 - 17:08 Permalink
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gorgias Do., 02.11.2017 - 21:08

Antwort auf von Mensch Ärgerdi…

Man sollte sich aber Fragen, wie eine EU funktionieren könnte wenn es aus 5 bzw 10 Millionen-Mitgliedstaaten funktionieren könnte. Solange die EU nicht mit einer gemeinsamen Außenpolitik sich durchsetzt ist man darauf angewiesen, dass die einzelnen Staaten stark nach außen auftreten können, und dafür braucht es Staaten wie Deutschland und Frankreich, auch wenn diese nicht die Interessen aller Mitglieder vertreten, können sich viele sich in dessen Windschatten bewegen.
Auf intern war der deutsch-französiche Motor wichtig der EU eine Richtung geben, würde nur Mitglieder mit 5 - 10 Millionen Einwohner geben würde das auch nicht mehr funktionieren.
Und je kleiner die Mitgliedstaaten sind um so mehr Mitglieder sind es bei gleiche größe der EU. Jedes Mitglied hat bei vielen Fragen Veto-Macht. Dies würde die EU weiter blockieren.

Also, bevor sich EU-Mitglieder in viele kleine Staaten aufspalten können, muss man wichtige funktionen auf die EU-Eben übertragen. Dann schon, sonst ist es kontra-produktiv.

Do., 02.11.2017 - 21:08 Permalink
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Harald Knoflach Fr., 03.11.2017 - 07:21

Antwort auf von gorgias

man könnte es auch umgekehrt sehen, dass die zersplitterung die auslösung für diesen prozess ist. kleine staaten sind tendenziell mehr an europäischer integration interessiert, da sie alleine auf der welt nicht viel ausrichten können. also könnten sie der motor für die von dir beschriebene entwicklung sein. natürlich müsste die eu anders als jetzt funktionieren (kein ministerrat in dieser form mehr usw. - hin zu einem echten parlamentarischen system).

Fr., 03.11.2017 - 07:21 Permalink
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Christian Mair Mi., 08.11.2017 - 18:55

Lorenz Gallmetzer arbeitet im obigen Artikel den Unterschied zwischen republikanischer Konstitution eines Gemeininteresses und durch Neoliberalismus getriebener und zu einer politischen Forderung gewordener Entsolidarisierung der Gesellschaft heraus. Der Sozialstaat und die soziale Marktwirtschaft wird zum Opfer des eigenen Erfolgs (eine Paralelle zur Impfung?). Anstatt dass sich die "Europäer zu einer gemeinsamen, gesetzlich bindenden Fiskal-, Sozial-, Umwelt- und Sicherheitspolitik durchringen" (L. Gallmetzer) suchen die Bürger ihr Heil in Abgrenzung und geschlossener Gesellschaft. Erst wenn Europa kaputt ist, werden dass die Auf-den-Leim-gegangenen erkennen.
Nicht Separatismus , sondern ein mutiger Schritt nach Vorne Richtung europäischer Republik und Autonomie für alle Regionen könnten die Probleme lösen. Empfehlenswert hierzu das Interview mit Ulrike Guerot:
https://www.youtube.com/watch?v=vIrdZjBBM5g

Mi., 08.11.2017 - 18:55 Permalink
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Harald Knoflach Mi., 08.11.2017 - 19:50

Antwort auf von Christian Mair

"Die Katalanen sind Europäer, die Nationalisten sitzen in Madrid. Schon die Schotten wurden bei ihrem Unabhängigkeitsreferendum betrogen. Weil ihnen gedroht wurde, dass sie aus der EU fliegen, wenn sie für Unabhängigkeit stimmen, haben sie für „Remain“ gestimmt – dieses „Remain“ galt Europa und nicht Großbritannien. Auch auf der Insel gilt: Die Schotten sind Europäer, die Nationalisten sitzen in London – und die haben mit dem Brexit-Referendum die irrationale und gefährliche Spielart des Nationalismus gezeigt."

aus "Die Grenzen fließen" von Ulrike Guérot und Robert Menasse

Mi., 08.11.2017 - 19:50 Permalink
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Christian Mair Do., 09.11.2017 - 18:48

Antwort auf von Harald Knoflach

Angenommen man strebt ein föderales Europa der Regionen an, in denen soziale Marktwirtschaft und demokratische Autonomie umgesetzt werden, und gemeine Interessen wie soziale Gerechtigkeit, Fiskal-und Sozialunion etc. verfolgt werden, aus welchen Grund sollte man dann Sezession/Selbstbestimmung/Unabhängigkeit fordern? Und vor allem in Bezug auf Südtirol muss die Frage erlaubt sein, ob die Kräfte mit denen man sich da an den Tisch setzt, nicht völlig andere identitäre und im Grunde neoliberale Ziele verfolgen? Nur mal so zum nachdenken, die Wirtschaftsexpertin der AFD Weidel ist Mitgleid des neoliberalen Thinkthanks MontPelerinSociety und war angestellt bei Goldman Sachs.

Do., 09.11.2017 - 18:48 Permalink
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Christian Mair Do., 09.11.2017 - 13:34

Anstatt sich selbst immer wieder als Musterland/Region darzustellen, sollte man sich überlegen, wieviel regionale Verfasstheit notwendig ist, um den eigenen inneren "nationalen" Abwehrreflex Einheitspartei und politische Hegemonie zu überwinden. Das austarierte Gleichgewicht Finanzen und Zuständigkeiten sollte in eine Landesverfassung gegossen werden, um zu vermeiden, dass diese Errungenschaften zum ständigen Faustpfand werden.
https://www.salto.bz/de/article/07112017/ein-unverbindliches-wischiwasc…

Do., 09.11.2017 - 13:34 Permalink
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Christian Mair Fr., 10.11.2017 - 15:06

Eine Unabhängigkeitserklärung einzelner Regionen sendet aber nicht ein Signal von Verschiebung von Verwaltungsgrenzen und Bildung einer Föderation von Regionen aus. In einer europäischen Republik ist jeder Bürger der Souverän. Um diesbezüglich eine gemeinsame Wahrnehmung zu schaffen, ist es wichtiger zumindest ähnliche Rechte republikweit zu schaffen. Die Unabhängigkeitsbewegungen werden hierfür bestenfalls politischen Druck aufbauen.

Fr., 10.11.2017 - 15:06 Permalink