Gesellschaft | Interview

“Man hat zu lange weggeschaut”

Sudabeh Kalantari Lun weiß um die Schwierigkeiten in den deutschsprachigen Kindergärten – warnt aber davor, den Kindergarten politisch zu instrumentalisieren.
Sudabeh Kalantari Lun
Foto: Salto.bz

Während die Kindergärtnerinnen im wohlverdienten Sommerurlaub sind, heizt die Politik die Diskussion um die Situation in den deutschsprachigen Stadtkindergärten an. “Heiß diskutiert” wurde das Thema auch bei der letzten Vollversammlung von K.A.S., gesteht Sudabeh Kalantari Lun. Die Burggräfler Kindergärtnerin vertritt als Präsidentin der Interessengemeinschaft an die 550 pädagogische Fachkräfte aller drei Sprachgruppen in Südtirol.

salto.bz: Frau Kalantari Lun, auf politischer Ebene läuft eine hitzige Diskussion über die deutschsprachigen Kindergärten…
Sudabeh Kalantari Lun: Es ist ja bald Wahlkampf (lacht).

Trotzdem, oder gerade deshalb, die Frage: Was sagen die, die anders als Politiker tagtäglich unmittelbar mit der Situation – einzelne Sektionen mit kaum deutschsprachigen Kindern, sprachliche und kulturelle Komplexität – konfrontiert sind? Was sagen die pädagogischen Fachkräfte?
Fakt ist, dass man viel zu lange die Augen vor der Situation verschlossen hat. Die Problematik gibt es nicht erst seit gestern, sondern schon seit ein paar Jahren. Ich spreche aus Erfahrung.

Ja?
Ich arbeite selbst am Kindergarten in Untermais in Meran als Sprachzusatzkraft. In Bozen und Meran gibt es angesichts der sprachlich komplexen Situation solche Kräfte. Wir sind ganz normale Kindergärtnerinnen, sind mit in der Gruppe und für die Vermittlung der deutschen Sprache zuständig, gerade bei Kindern mit Migrationshintergrund bzw. Kindern der italienischen Sprachgruppe.

Viele Kolleginnen sind mit der Situation überfordert, nicht nur physisch, sondern auch psychisch.

Können Sie die Problematik, die nun politisch zerpflückt wird, aus Ihrer Erfahrung schildern?
Man steht ganz oft vor der Situation, dass Kinder einen überhaupt nicht verstehen wenn man deutsch redet, Kinder, die wie taub sind. Als ob da jemand stünde, der einen nicht hört. Man kann immer nur schrittweise erahnen, wie es dem Kind geht, welche Bedürfnisse es hat. Es geht um ganz kleine elementare Dinge, etwa zu verstehen, dass das Kind auf die Toilette will. Es sind diese alltäglichen Kleinigkeiten, die für uns Fachkräfte auch emotional am schwersten zu ertragen sind. Dazu kommt, dass die italienische Sprache viel leichter zu erlernen ist als die deutsche.

Inwieweit spielt das in Ihrem Arbeitsalltag eine Rolle?
Gerade Eltern mit Migrationshintergrund lernen nun einmal zuerst italienisch und nicht deutsch. Das ist de facto so. Wir können Eltern zu nichts zwingen, wir können nur den Anreiz geben, sagen: “Bitte besucht Deutschkurse, unterstützt eure Kinder”. Wenn nicht auch Eltern ihr Sprachwissen vertiefen, ist es für die Kinder noch schwerer, deutsch zu lernen.

Wie reagieren Eltern darauf?
Bei vielen habe ich den Eindruck, dass sie das auch wollen. Nur ist es nicht immer realisierbar – aufgrund ihrer Arbeitssituation oder generell der häuslichen Situation. Sie haben hier kein Netz, keine Großeltern oder Verwandten. Wo also sollen die Kinder hin wenn Eltern die Sprachkurse besuchen? Das sind viele kleine Sachen, die von politischer Seite nicht berücksichtigt werden oder nicht werden können, weil wir so wenig Einblick in die Situation haben.

Das Problem für die deutschsprachigen Kindergärten sind eher Familien mit Migrationshintergrund als italienischsprachige?
Es betrifft beide, da will ich nicht groß zwischen italienischsprachigen Eltern und jenen mit Migrationshintergrund unterscheiden.

Im deutschen Kindergarten auf das Italienische zu verzichten ist in der jetzigen Situation nicht möglich.

Wie gehen Sie mit den mangelnden Deutschkenntnissen um?
Im deutschsprachigen Kindergarten sollte ich vom Gesetz her überhaupt nicht italienisch sprechen. Das ist völlig utopisch. Die meisten Eltern muss ich fast auf italienisch ansprechen, weil sie mich überhaupt nicht verstehen. Versuche ich etwas auf deutsch zu erklären – was nächste Woche mitzubringen ist oder dass ein freier Nachmittag ansteht –, schieße ich mir aber wieder selbst ins Knie. Weil sie mich nicht verstehen. Daher muss ich es zwangsläufig auf italienisch erklären. Genauso ist es bei den Kindern auch. Man ertappt sich immer wieder dabei, dass man italienisch redet – weil es gar nicht anders geht.

Das kann doch nicht im Interesse der Eltern sein?
Klar, sie sind ja nicht blöd und merken, dass auch in den deutschen Bildungseinrichtungen, wo sie ihre Kinder – häufig trotz Abraten der Fachkräfte – hinschicken, viel italienisch gesprochen wird. Aber die Vermittlung der deutschen Sprache kann nicht im Kindergarten passieren. Wir sind kein Sprachinstitut, wir sind ein Kindergarten. Und in solchen Situationen kann von Bildungsauftrag gar keine Rede sein. Der Bildungsauftrag ist in solchen Fällen das, was am wenigsten realisierbar ist.

Ist in solchen Situationen eine gute Sprachförderung für die deutschsprachigen Kinder unmöglich?
(Lacht) Ich stelle Ihnen eine Gegenfrage: Wie soll in einer Gruppe mit 25 Kindern, von denen fünf deutschsprachig sind, die deutsche Sprache vermittelt werden? Die Antwort gibt sich von alleine: Es ist schwierig. Und es ist natürlich so, dass die anderssprachigen Kinder, auch ungewollt, aber logischerweise, mehr Aufmerksamkeit bekommen. Die deutschsprachigen Kinder haben den großen Vorteil, dass sie im Kindergarten relativ zügig italienisch lernen. Was wieder damit zusammenhängt, dass die deutsche Sprache viel schwerer zu erlernen ist als die italienische.

Wir werden nicht umhin kommen, die Lager durcheinander zu wirbeln.

Erschwert auch der Dialekt das Erlernen der deutschen Sprache?
Natürlich. Ich bin eine absolute Verfechterin dafür, dass der Dialekt sowohl im Kindergarten als auch in der Schule nichts zu suchen hat. Der Dialekt ist in Südtirol so weit verbreitet, dass er wunderbar im Privatbereich, auf Ebene der Familie vermittelt werden kann. In der Bildungsarbeit – und man darf nicht vergessen, dass der Kindergarten eine Bildungsinstitution ist – hat er absolut nichts verloren.

Wie sieht die Realität aus?
Das ist ein großer Knackpunkt. Es gibt viele Kolleginnen, die auch Dialekt im Kindergarten sprechen. Ich glaube, da muss man immer wieder darauf hinweisen muss, dass der Dialekt nicht wirklich deutsche Sprache ist. Ich traue mich das zu beurteilen, weil ich aus Deutschland komme.

Überfordertes Personal, kaum Deutschkenntnisse, überwiegend Italienisch – warum wählen so viele anderssprachige Eltern einen deutschsprachigen Kindergarten?
Diese Frage nach dem Warum ist auch ein heißes Eisen. Man muss sie unbedingt stellen. Von vielen Eltern kommt die Argumentation: Mein Kind hat bessere Chancen wenn es in den deutschen Kindergarten geht und die deutsche Sprache lernt. Mit dem Sprachenlernen ist es aber nicht so einfach wenn der Rückhalt in der Familie fehlt. Zum anderen hat der italienische Kindergarten meines Wissens einen anderen anderen pädagogischen Ansatz. Das ist für viele Eltern auch ein Argument. Es gilt hier, genauer hinzugucken. Nicht einfach sagen, die ganzen italienischen Eltern schicken ihre Kinder in den deutschen Kindergarten, sondern das Warum erforschen. Dann weiß man auch, was es zu ändern gilt, damit der italienischsprachige Kindergarten wieder attraktiver wird.

Ich glaube, dass man etwas über den Tellerrand schauen sollte. Schauen wir uns doch an, wie anderswo mit einer sprachlich komplexen Situation umgegangen wird, vielleicht können wir etwas abschauen.

Nun soll zunächst der deutschsprachige Kindergarten in der Stadt angegangen werden. Wie zielführend ist es, den Missstand, den es offensichtlich gibt, politisch zu instrumentalisieren? Auf der einen Seite ist jetzt von “Apartheid” die Rede, auf der anderen werden scharfe Maßnahmen wie Sprachtests für Kleinkinder oder Quoten gefordert.
Die Leute sollten mal die Begrifflichkeit “Apartheid” nachschlagen, damit sie wissen, wovon sie überhaupt reden. Die Diskussion ist dann nicht mehr zielführend, wenn man die Zielgruppe aus den Augen verliert, nämlich die Kinder. Und das ist leider Gottes bei einigen derzeit der Fall. Seit einer Woche lese ich aufmerksam sowohl die deutsch- als auch die italienischsprachigen Medien und bei manchen denke ich mir schon, worum geht es denn jetzt überhaupt noch? Ich glaube, es ist wichtig, dass man sich auf den Weg macht und dabei auch die Fachkräfte einbezieht. Diese Personen, die sich schon seit Jahren mit dieser Situation beschäftigen, sollen zurate gezogen werden, gefragt werden, wie sie als direkt Betroffene das Ganze erleben.

Wurden Sie bzw. die Interessengemeinschaft, die Sie vertreten angehört?
Bei einem Telefonat mit dem zuständigen Landesrat Achammer vor einigen Wochen hat er mich gefragt, wie man schnell Abhilfe schaffen könnte.

Was haben Sie geantwortet?
Eine Möglichkeit wäre, die Gruppenstärken vor allem in den belasteten Gebieten runterzufahren. 25 Kinder sind unter solchen Umständen eine Belastung. Bei 20 oder 18 Kinder in der Gruppe geht es schon leichter. Dem wurde jetzt Gott sei Dank nachgekommen: Ab kommenden Jahr wird die Gruppenstärke in den Stadtkindergärten, in denen diese Situation vorherrscht, reduziert. Dafür bin ich dem Landesrat ehrlich gesagt auch ziemlich dankbar.

Das ist nur einer der fünf Punkte, mit denen die Landesregierung der sprachlichen Komplexität in den deutschsprachigen Kindergärten gerecht werden will. Was sagen Sie zu den restlichen  Vorschlägen?
Bei allen anderen Maßnahmen ist es schwierig, im Vorfeld zu sagen, ob sie gut oder schlecht sind. Was sicherlich ganz daneben wäre: eine Quote für den Kindergarten einzuführen, wie es der ASGB in den Raum stellt.

Was wäre daran falsch?
Zu sagen, man nimmt 75 Prozent deutschsprachige Kinder und 25 Prozent Anderssprachige auf, ist kurzfristig eine tolle Idee. Denkt man länger darüber nach, stellt man aber fest, dass das absolut nicht realisierbar ist. Wo gehen dann bitteschön die Kinder hin, die nicht mehr aufgenommen werden können? Kommen die in Ghettokindergärten? Oder bleiben einfach auf der Strecke? Was ich sagen will: Man muss sehr gut überlegen, wie man das “Problem” wirklich in den Griff bekommen will. Es geht darum, Konzepte zu finden, die dieser Situation gerecht werden.

Der Dialekt ist eine wunderbare Eigenheit und in Südtirol so weit verbreitet, dass ich mir um dessen Aussterben überhaupt keine Sorgen mache.

Haben Sie den Eindruck, dass tatsächlich konstruktiv an einer Lösung gearbeitet wird?
Es wurde ja Gott sei Dank schon für dieses Jahr das Stellenkontingent aufgestockt. Das ist auch schon ein großer Fortschritt. Die Kinderzahl steigt stetig, auch die Zahl der italienischsprachigen Kinder und jener mit Migrationshintergrund, ohne dass je etwas am Personalschlüssel getan wurde. Viele Kolleginnen sind aber mit der Situation überfordert, nicht nur physisch, sondern auch psychisch. Denn zu zu den anderssprachigen Kindern kommen die Kleinen, die noch mit Windel in den Kindergarten kommen und gewechselt werden müssen. Das gab es früher nicht. Wie gesagt, ich glaube, das Problem ist, wie viele Problematiken im Kindergarten, viel zu lange nicht angegangen worden. Jetzt bricht es langsam auf. Es ist ganz wichtig, dass man beginnt, sich mit den Sachen auseinanderzusetzen.

Jetzt, da der Wahlkampf bevor steht…
Es ist völlig falsch, das als Wahlpropaganda abzutun, denn es passiert zumindest etwas. Ob das jemand macht, weil er gern wieder gewählt werden möchte, ist mir im Moment egal. Für mich zählt das Resultat, dass wir uns auf den Weg gemacht haben, etwas zu ändern. Aber völlig fehl am Platz und kontraproduktiv ist, politisches Kapital daraus schlagen zu wollen – mal auf der deutschsprachigen, mal auf der italienischsprachigen Seite, mal für die mehr links, mal für die eher rechts. Wenn der Kindergarten weiterhin politisch derart ausgeschlachtet wird, befürchte ich, dass die nun gemachten Schritte schon wieder zum Scheitern verurteilt ist.

Wir sind kein Sprachinstitut, wir sind ein Kindergarten.

Einige sehen in der Situation in den deutschsprachigen Kindergärten die Gelegenheit, ein mehrsprachiges Schulsystem aufzubauen. Sie auch?
Wir müssen langfristig, mittelfristig und sogar schon kurzfristig über mehrsprachig gestaltete Bildungssysteme nachdenken. Die Mehrsprachigkeit ist Realität in Südtirol. Wir können die Migranten, die zu den Deutsch- und Italienischsprachigen dazu kommen, nicht wegdiskutieren, die sind da. Dieser Realität müssen wir Rechnung tragen. Mein Appell richtet sich sowohl an die SVP als auch an die italienischen Parteien: Es ist unnütz, an alten politischen Ressentiments festzuhalten und zu sagen “Ja, aber…”. Wenn wir weiterhin eine qualitativ hochwertige Bildungsbasis haben wollen, müssen wir umdenken, weiterdenken. Man kann nicht an alten Strukturen und Denkweisen festhalten nur um nicht irgendeine große Diskussion vom Zaun zu brechen. Wir werden nicht umhin kommen, die Lager durcheinander zu wirbeln.