Sommerträume der Berliner Schule

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Zwei Jahre nach Roter Himmel stellte Christian Petzold, Aushängeschild der sogenannten Berliner Schule, bei den diesjährigen Filmfestspielen von Cannes während der Nebensektion Quinzaine des Cinéastes seinen neuen Film vor. Vor einigen Tagen war das Werk, das auf den Namen Miroirs No. 3 hört, dann auch der Eröffnungsfilm der Viennale. Abermals, nun schon zum vierten Mal, ist Paula Beer auf fabelhafte Art in der Hauptrolle zu sehen. Sie spielt die Studentin Laura, die in Berlin Klavier studiert und eines schönen Wochenendes mit ihrem Freund und dessen Bekannten aufs Land fährt. Schon während der Fahrt zieht es sie innerlich wieder nachhause, als sie entscheidet, zurück zum Bahnhof zu fahren, kommt es zu einem Unfall, bei dem ihr Freund verstirbt. Laura selbst kuriert sich im Folgenden im Haus einer Zeugin aus. Sie heißt Betty und lebt, so scheint es anfangs, völlig allein in einem idyllischen Häuschen an der Landstraße. Laura hilft im Haushalt mit, erledigt Reparaturen im und ums Haus, und wähnt sich in sommerlichem Frieden. Als mit Richard und Max der Mann und der Sohn von Betty auftauchen, offenbart sich langsam die komplexe Situation, in der sich die Familie befindet – und auch, welche neu gewonnene, nicht von allen Mitgliedern tolerierte Rolle Laura einnehmen soll.
Wenn der Abspann läuft, bleibt eine Traurigkeit, warum genau, weiß man vielleicht selbst nicht, aber es ist das Gefühl eines Sommers, der vergeht.
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Christian Petzold gibt sich in diesem Film noch einmal ein Stück reduzierter als noch in Roter Himmel. Das äußert sich einerseits anhand der Laufzeit von 86 Minuten (Miroirs No. 3) im Vergleich zum Vorgänger (103 Min.). Andererseits ist auch die Erzählung selbst kleiner. Laura trifft gemeinsam mit uns, dem Publikum, auf eine sehr überschaubare Gruppe an Menschen. Beinahe der gesamte Film spielt sich bei Bettys Haus oder der Werkstatt von Richard und Max ab. Langsam, beinahe schleichend erzählt Petzold an diesen schnell etablierten Orten, wie sich die Figuren aufeinander zubewegen. Geschickt zerreißt das Drehbuch gestrickte Verbindungen im richtigen Moment, wenn etwa ein Geheimnis kurz davor ist, offenbart zu werden. Überhaupt ist der Film voller Geheimnisse. Das beginnt bei Lauras Gemütszustand, der schon zu Anfang bedrohlich über allem schwebt. Auch die scheinbare Idylle am Haus, der weiß gestrichene Zaun, Sonnenschein vom blauen Himmel herab – man fühlt sich fast an Blue Velvet erinnert. Blicke sind hier sehr wichtig, denn bis auf Laura spricht selten eine Figur das aus, was sie denkt. Das großartige Ensemble neben Paula Beer, bestehend aus Barbara Auer, Matthias Brandt und Enno Trebs tut ihr Übriges. Es frustriert beinahe, wie unfähig die Familie ist, miteinander zu sprechen, und wie sehr das Erscheinen einer externen Kraft, in diesem Fall Laura, festgefahrene Verhaltensmuster ins Wanken bringt, ohne jedoch zu einem befriedigendem Ergebnis zu kommen.
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Ebenso wie die Geschichte selbst inszeniert Petzold gewohnt unaufgeregt. Alles stellt sich in den Dienst der Erzählung und ihrer Figuren, so auch die spärlich eingesetzte Musik, zu der das titelgebende Stück von Maurice Ravel gehört. Die traumartige Atmosphäre, der unwirkliche Charakter von Ort und Zeit – ein Gefühl für die Anzahl vergangener Tage im Haus ist kaum herzustellen – passt gut zu Laura und ihrem Treffen mit einer Familie, die selbst außerhalb der Realität zu existieren scheint. Wenn der Abspann läuft, bleibt eine Traurigkeit, warum genau, weiß man vielleicht selbst nicht, aber es ist das Gefühl eines Sommers, der vergeht. Voller verpasster Chancen.
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