Kultur | SALTO Gespräch

Die Fakten in den Akten

Historiker Davide F. Jabes kommt für zwei Termine nach Südtirol. Zum einen stellt er sein aktuelles Buch über Hitler vor. Außerdem spricht er zum "Bestand Russomanno".
Jabes
Foto: Davide Franco Jabes
  • SALTO: Sie kommen nach Bozen und stellen hier die von Ihnen verfasste Hitler-Biografie „Il Leader“ vor. Finden sich darin auch spezielle Bezüge zu Bozen und Südtirol?

    Davide F. Jabes: Ich glaube, ich zitiere an einer Stelle aus Mein Kampf, wo Hitler meint, dass es sich nicht lohnt 200.000 unserer Brüder zu retten, um Italien zu verärgern. 

    Warum dieses Buch?

    Ich habe dieses Buch geschrieben, weil ich der Überzeugung bin, dass Hitler im Grunde genommen für viele Menschen unbekannt ist, auch wenn die meisten viele Details zum ihm kennen und über ihn zu wissen meinen, weil sie vielleicht den einen oder anderen Film gesehen haben, oder weil sie zwei oder drei Seiten eines wichtigen Buches gelesen haben. Kaum jemand aber – oder nur sehr wenige Menschen –, kennen tatsächlich seine Biografie. 

  • Il Leader: Buchvorstellung am 22. November im Centro Trevi in Bozen. Foto: Solferino

    Ehrlich gesagt graut es mir davor, mich – auch über ein sorgfältig recherchiertes Buch – ausführlich mit Adolf Hitler befassen zu müssen. Warum sollte ich Ihr Buch dennoch lesen?

    Sie sollten es nicht lesen, um die Zeit von damals zu verstehen, auch nicht, um sich an diese Zeiten zu erinnern. Es ist aber eine gute Übung, um komplexe Zusammenhänge über die Bedeutung des nationalsozialistischen Regimes besser zu verstehen, auch im Bezug zu totalitären Gegebenheiten der Gegenwart, die uns im ersten Moment gar nicht bewusst sind. Hitler war als Politiker zweifelsfrei ein großes Genie, militärisch hingegen nicht. Er war insofern ein Genie, da er wie ein Schauspieler agierte, sich stets wie auf einer Bühne im Theater präsentierte. Nur, es war alles Wirklichkeit. Und viele glaubten und folgten ihm.

     

    Das Interesse an allem hat sich wohl ergeben, weil sich meine Familie so zusammensetzte, wie sie sich eben zusammensetzte.

  • Das bringt ihn auch ein wenig in die Nähe von Benito Mussolini, der die politische Bühne ebenfalls sehr theatralisch nutzte…

    Mussolini war ein sehr guter Redner für die damalige Zeit, aber er war anders als Hitler, hatte nicht diesen Messianismus in seinem Charakter. Das faschistische Regime war außerdem anders aufgestellt, von der Akzeptanz her vergleichbar mit der Ära Berlusconi, wo ca. 30% der Bevölkerung Überzeugte waren, ca. 50-60% Opportunisten – die vom Fenster aus zuschauten –, und ca. 10% die dagegen waren. Bei Hitler war das anders. Nachdem Hitler die Macht errungen hatte, haben sogar viele Kommunisten umgeschwenkt und auch andere, die zunächst gegen den Nationalsozialismus waren. Hitlers Stärke war anerkannt und ab dem Jahr 1935 war der Konsens in Deutschland zu seiner Figur sehr hoch, auch 1936, als er viele diplomatische Siege erringen konnte und viele ihm abkauften, die Dinge würden sich zum Besseren wenden. Er hatte einen gewaltigen Zuspruch, den Mussolini in dieser Form nie hatte.

    Wie beurteilen Sie im Buch das Verhältnis Führer-Duce?

    Dieser Aspekt wird hervorgehoben, dass eben Mussolini im Grunde wie eine Marionette agierte, als Marionette der großen italienischen Mächte der Monarchie, der Kirche und von Confindustria. Vor allem hatte Hitler auch nicht all diese Schwächen Mussolinis, der ja bereits viel länger an der Macht war und eigentlich in seinen späteren Jahren nicht mehr wirklich eine Sicht auf die Realität hatte. Ein Wendepunkt dazu war das Jahr 1933. Bis dahin war für Mussolinis Taten mehr Bewusstsein da, später nicht mehr. Natürlich war er ein machtbesoffener Mensch, der Leute um sich herum hatte, die immer Ja sagten. Das gilt natürlich auch für Hitler. Beide waren totalitäre Diktatoren. 

  • Foto: Italienische Landesbibliothek

    Wie ist Ihr Interesse zur Aufarbeitung über diese „Unperson“ – wie der bekannte Historiker Joachim Fest Hitler bezeichnete – entstanden? 

    Meiner Meinung nach, kann man Hitler nicht als Unperson bezeichnen. Er war absolut ein Mensch mit Ideen, die uns auch anwidern mögen, aber er war ein Mensch, hatte Gefühle, er hatte viel Wut, viel Rachegelüste gegenüber der Welt, gegenüber denen, die ihn abgelehnt hatten und gegenüber sehr vielen anderen Dingen. Er hatte Leidenschaften – wenn auch sehr fragwürdige Leidenschaften – für die Kunst oder Literatur. Aber er war definitiv ein Mensch, er war keine "Unperson", wie Joachim Fest sagte. 

  • Warum die Faszination für diesen "Leader"?

    Das hat mit meiner Kindheit zu tun und mit dem sprichwörtlichen „Elefanten im Schrank“. Als Kind habe ich mich immer gefragt, warum bei uns zuhause keiner Deutsch hören wollte und warum ich kein deutsches Kind zu mir nach Hause einladen durfte. Daraus ist sicher eine sehr starke Neugierde für die Figur uns sein Regime entstanden. Schritt für Schritt habe ich dann alles erforscht und wurde extrem gierig auf alles was mit ihm direkt oder indirekt in Zusammenhang steht, vor allem das Antijüdische im nationalsozialistischen Diskurs. Da ich nicht vollständig jüdisch bin – die Mutter katholisch, der Vater jüdisch –, blieb immer eine große Neugierde beide Seiten der Familie zu erforschen, weil es mütterlicherseits auch Faschisten im näheren familiären Umfeld gegeben hat. Das Interesse an allem hat sich wohl ergeben, weil sich meine Familie so zusammensetzte, wie sie sich eben zusammensetzte.

    Kann man sagen, dass dies die erste "jüdische Biografie" über Hitler ist?

    Ich habe diesbezüglich recherchiert und habe bisher tatsächlich keine jüdische Person finden können, die eine Biographie über Hitler geschrieben hat, was ich von einem gewissen Standpunkt aus auch verstehe, vor allem wenn ich an die Zeit zurückdenke, in der ich über die Shoah geschrieben habe. Dieser Zeitraum hat mich ziemlich fertig gemacht. 
     

    Denn im Grunde ist viel bei ihm von der Kirche entlehnt, einer Kirche die er zwar ablehnt, die aber seinen Antisemitismus vorgab.


    Waren Sie für dieses Buch auch in Braunau, in Hitlers Geburtshaus?

    Ich war in München, der Geburtsstadt des Nationalsozialismus. Und ich habe verstanden, warum der Nationalsozialismus in München explodierte. München war für den Nationalsozialismus wichtiger, als etwa die Tatsache, dass Hitler Österreicher war, auch wenn seine Leidenschaft für Musik, Theater und seine Art von Antisemitismus von dort herrühren. Denn im Grunde ist viel bei ihm von der Kirche entlehnt, einer Kirche die er zwar ablehnt, die aber seinen Antisemitismus vorgab.

    Vor Hitler haben Sie sich ausführlich mit einem anderen Österreicher beschäftigt: Joseph II., zu welchem Sie promoviert haben... 

    Es gibt interessante Erkenntnisse dazu, die mit der Kirche in Österreich des 18. und 19. Jahrhunderts zu tun haben und mit dem sogenannten Josephinismus. Als Joseph II, Sohn von Maria Theresia, den Thron bestieg, begann er sofort mit seinen revolutionären Reformen. Als er dann 1790 starb, wird sein Bruder dazu gezwungen viele Reformen wieder rückgängig zu machen. Warum? Wegen der Kirche. Die Kirche hatte Ende des 18. Jahrhunderts mit ansehen müssen, wie Joseph II Klöster wegnahm oder Orden aufgelöste. Die Reaktion darauf war heftig. Mir ist auch bewusst, dass diese frühe Geschichte niemand hören will, auch niemanden interessiert, sie ist aber wahr und mit Dokumenten belegbar. Sie ist Grund, weshalb die österreichische Kirche in dieser Zeit so extrem wurde. Auch in der Weiterführung.

  • Bestand Russomanno: Silvano Russomanno (1924–2012) trat 1950 im Rang eines stv. Kommissars in den Polizeidienst und war zunächst in Südtirol stationiert. 1960 leitete er das Revier in Brixen und erhielt im selben Jahr ein Angebot bei der Abteilung „Vertrauliche Angelegenheiten“ in Rom, wo er sich vor allem mit der Terrorismusbekämpfung in Südtirol befassen sollte. Dort pflegte er insbesondere Kontakte zu den entsprechenden Dienststellen der österreichischen und der deutschen Polizei. Foto: Bestand Russomanno

    Sie kennen die Gegend und Geschichte Südtirols sehr gut. Als Urlauber und Historiker. Wie kam es dazu?

    Ich bin vor allem über die Autorin Lilli Gruber und den Recherchen für ihre Bücher in diese Gegend gekommen. Später kam ich dann mit meinen Kindern, um hier Urlaub zu machen. Mittlerweile fahre ich jedes Jahr hierher. Südtirol hat eine sehr interessante Geschichte. Wir haben hier Nazis, Neonazis oder Leute die mit dem Nationalsozialismus sympathisieren, aber antifaschistisch sind. Das Auskommen von Faschismus und Nationalsozialisten war hier überhaupt nicht gegeben, auch wenn die Menschen mitansehen mussten, dass Hitler und Mussolini kein Problem hatten, sich bzgl. Südtirol zu einigen. Eine weitere interessante Tatsache in der Geschichte Südtirols ist, dass die CIA, der Auslandsgeheimdienst der Vereinigten Staaten und die NATO hier versuchten eine Strategie des Chaos voranzutreiben und Südtirol zum Übungsplatz späterer Auseinandersetzungen machten.
     

    Wichtige polizeiliche Ermittlungsakten fehlen. Zu allem anderen gibt es Ermittlungsakten.

  • Foto: Kompetenzzentrum für Regionalgeschichte

    Demnächst stellen Sie nicht nur Ihr neues Buch in Bozen vor, sondern sind auch als Redner bei einer Veranstaltung zum Bestand Russomanno vorgesehen…

    Ich habe dazu ein Jahr lang im Archiv in Bozen gearbeitet und habe während dieser Zeit eine analytische Bestandsaufnahme von rund 80 Konvoluten gemacht, die sich im zentralen Staatsarchiv befinden. Silvano Russomanno war zunächst Polizist in Südtirol, sprach fließend Deutsch und beherrschte auch andere Sprachen sehr gut. Vor allem war er aber ein großer Kenner der deutschen Traditionen. Von der Polizei wurde Russomanno gebeten, sich um die Südtiroler Frage zu kümmern und so war er die(!) Schlüsselfigur der italienischen Polizei, um den Südtiroler Terrorismus zu zerschlagen, oder ihn – je nach Interpretation – zu benutzen. Sein Archiv gibt nicht alle Antworten, es gibt aber einen Überblick über alles, was das italienische Repressionssystem in Südtirol ausmachte. Es liefert eine Menge Material, aber ich bin auch überzeugt, dass Teile des Bestandes fehlen. Dies lässt sich damit begründen, dass derjenige, der das Archiv angelegt hat, sicherlich nicht wollte, dass bestimmte Dinge bekannt werden. Es kamen noch andere Zensurmaßnahmen hinzu, zum Beispiel die Zensur von Personennamen oder zu persönlichen Fakten. Wichtige polizeiliche Ermittlungsakten fehlen. Zu allem anderen gibt es Ermittlungsakten.

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Hartmuth Staffler So., 19.11.2023 - 08:27

Wichtig ist vor allem die Aussage von Davide F. Jabes, dass Hitlers Antisemitismus vom kirchlichen Antisemitismus kommt. Hitler hat in Wien den katholisch-konservativen Antisemitismus kennengelernt, der rein religiös bedingt war, den christlich-sozialen Antisemitismus (Lueger usw.), der vor allem als politisches Kampfmittel gedient hat, sowie den rassistischen Antisemitismus eines Schönerer. Er hat dann die beiden letztgenannten vermischt. In Südtirol hat vor allem der vor dem Ersten Weltkrieg weitverbreitete christlich-soziale Antisemitismus die Akzeptanz des rassistischen Antisemitismus gefördert, vor allem über den fanatischen Piusverein, der in Brixen mit mehr als 600 Mitgliedern in den beiden Brixner Sektionen seine Tiroler Hochburg hatte und von Fürstbischof Egger stark gefördert wurde. Darüber wird in Südtirol aber lieber geschwiegen.

So., 19.11.2023 - 08:27 Permalink
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△rtim post So., 19.11.2023 - 12:32

Manchem wird man beipflichten. Mit der Zuschreibung "Unperson" allein kommt man in der Forschung nicht weiter.
Andererseits. Eine Position (letztlich) der Relativierung Mussolinis und der totalitären Terror-und Gewaltherrschaft entspricht nicht dem Forschungsstand, auch nicht jenem der Globalgeschichte des Faschismus (Fascism and Modernism).

So., 19.11.2023 - 12:32 Permalink
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Josef Fulterer Mo., 20.11.2023 - 06:24

Der bei einem Gasangriff leicht geschädigte Mussolini-Bewunderer Hitler, hat nach dem 1. Weltkrieg in den Münchner-Bierlokalen, die Besucher "mit seinem Lamento über den verlorenen Krieg belästigt."
In seinem im Gefängnis verfassten "Mein Kampf," das für "die Besseren sogar in Leder gebunden mit Goldschnitt veredelt gegeben wurde," hat er mit vielen Wiederholungen seine Thesen "vom besseren DEUTSCHEN - V O L K aufgestellt, das total unwürdig war den Krieg zu verlieren." Dabei hat er auch kein Hehl daraus gemacht, dass er n i c h t wegen "den mit Gewalt vom Duce italienisierten 200.000 Südtirolern," seine recht einseitige Freundschaft mit dem bewunderten Mussolini aufs Spiel setzen wird.
Der Mussolini hingegen hat dem Hitler misstraut und in Südtirol eine Menge Bunker an strateghischen Punkten errichten lassen.

Mo., 20.11.2023 - 06:24 Permalink