Umwelt | Interview

„Es braucht mehr Blühstreifen“

Die Präsidentin der Freien Universität Bozen, Ulrike Tappeiner, beurteilt die neue Pestizid-Studie im Vinschgau. Die Biologin plädiert für einen Weg der Mitte.
Ulrike Tappeiner
Foto: Seehauserfoto
  • SALTO: Frau Tappeiner, wie beurteilen Sie die neue Studie im Vinschgau zu Pestizid-Rückständen außerhalb von Apfelanlagen?

    Ulrike Tappeiner: Die Studie zeigt Kontaminationen von Pflanzenschutzmitteln auch außerhalb von Apfelanlagen, von den insgesamt 97 untersuchten Mitteln wurden insgesamt 27 in Pflanzen-und Bodenproben nachgewiesen. An sich hat mich das nicht überrascht, derartige Untersuchungen gibt es in verschiedenen Ländern wie in Österreich oder in der Schweiz. Wichtig ist, dass die festgestellten Kontaminationen außerhalb von Apfelanlagen auf einem äußerst geringen Niveau sind. Die Konzentration sinkt, je höher die untersuchte Hanglage ist. Sie befinden sich bei weiter Entfernung im Promillebereich der Wirkkonzentrationen. 

    „Und noch weniger wissen wir, wie sich eine Wirkstoffkombination auswirkt.“

    Die Proben im Vinschgau wurden vom 8. bis zum 11. Mai 2022 entnommen.

    Die Beprobung im Mai entspricht sicherlich dem Worst Case (in diesem Zeitraum spritzen die Landwirtinnen und Landwirte im Frühling durchschnittlich am meisten, Anmerkung d. R.). Um die Erkenntnisse zu untermauern, müssten die Proben mehrmals im Jahr genommen werden, da viele dieser Mittel relativ rasch abgebaut werden. Ich möchte den aktuellen Wert dieser Studie nicht schmälern, aber im Vorgleich zu Studien aus den Vorjahren hat die Anzahl und Konzentration der Pflanzenschutzmittel außerhalb von Apfelanlagen von 2018 bis 2021 stark abgenommen. Man sieht also, dass die Landwirtschaft bereits reagiert hat. Nichtsdestotrotz sind diese Kontaminationen vorhanden, die gemessenen Konzentrationen stellen aber überhaupt keine Gefahr für den Menschen dar und liegen weit unter den zulässigen Werten für Nahrungsmittel. Trotzdem ist es wichtig, die Entwicklung weiter zu beobachten. Schließlich kommen auch neue Schädlinge dazu, die möglicherweise den Einsatz neuer Pflanzenschutzmittel nötig machen. 

  • Streuobstwiesen: Diese Art der Bewirtschaftung ermöglicht eine hohe Artenvielfalt. Foto: Johanna Platzgummer
  • Also halten Sie die Reaktionen von Medien und Umweltschutzorganisationen für überzogen?

    Es wird uns damit einfach bewusst, dass all unsere Aktivitäten mit acht Milliarden Menschen einen Einfluss auf die Erde haben. Ich möchte hier ein weiteres Beispiel nennen und das ist das Mikroplastik. Es findet sich heute überall und schädigt Organismen. Man hat bisher geglaubt, dass die am höchsten verschmutzten Bereiche in den subtropischen Ozeanen liegen. Eine 2023 veröffentlichte Studie zeigte aber nun, dass im Lago Maggiore mehr Mikroplastik als in den subtropischen Ozeanen vorhanden ist. Um die Verschmutzung Südtiroler Gewässer durch Mikroplastik zu erheben, läuft  derzeit eine Studie von Eurac Research mit mehreren Kooperationspartnern. 

    Zu den Effekten von kumulierten Pestiziden, wie sie im Vinschgau gefunden wurden, gibt es bisher wenig Forschung. Gibt es hier Aufholbedarf?

    Die Wirkstoffe umfassen Insektizide, Herbizide und Fungizide. Je nach Wirkstoff ergeben sich andere Effekte. Wir wissen leider nur sehr wenig über generelle Auswirkungen eines bestimmten Pflanzenschutzmittels auf unterschiedliche Arten. Insektizide wirken sich nicht nur auf den Schadorganismus aus, sondern auch auf andere Insekten. Deshalb ist es nicht ganz unkritisch, wenn man diese außerhalb von Apfelanlagen vorfindet. Und noch weniger wissen wir, wie sich eine Wirkstoffkombination auswirkt. Dies zu untersuchen wäre allerdings ein immenser Aufwand. 

  • Ulrike Tappeiner: „Mit der Abnahme der Insekten-Biomasse geht auch ein Rückgang der Vielfalt und der Zahl von Vögeln einher.“ Foto: unibz / Erlacher

    Weshalb? 

    Wenn man beispielsweise die Auswirkungen der Kombination von jeweils zwei der 27 in der Studie nachgewiesenen Pflanzenschutzmittel auf den Lebenszyklus von Arten untersuchen würde, käme man auf 351 Kombinationen, bei der Kombination von drei Mitteln müsste man schon über 17.000 Kombinationswirkungen untersuchen. Das ist an sich nicht machbar. 

    „Die Biodiversität ist wie ein Schutznetz.“

    Welche Untersuchungen könnten auch hierzulande durchgeführt werden?

    Was in Südtirol umsetzbar wäre, ist die Erforschung von ausgewählten Insektenarten wie die Tagfalter, um die Auswirkungen einzelner Pflanzenschutzmittel im Laufe der Entwicklung genauer festzuhalten. Studien zu Insekten, die einer höheren Konzentration von Pflanzenschutzmittel ausgesetzt waren, zeigt, dass ihre sogenannte Fitness eingeschränkt wird, die bei der Fortpflanzung wichtig ist.    

    Man scheint sich innerhalb der Wissenschaft einig zu sein, dass die Anzahl der Insekten weltweit drastisch gesunken ist. 

    Das stimmt. Eindeutig belegt hat das die 2017 veröffentlichte ‚Krefelder-Studie‘, die übrigens auch der Auslöser für das Biodiversitätsmonitoring in Südtirol ist. Die Studie hatte festgestellt, dass auf deutschen Naturschutzflächen innerhalb von 30 Jahren 75 Prozent der Insekten-Biomasse verloren gegangen ist. Die ältere Generation weiß noch, dass die Scheiben bei einer längeren Autofahrt früher immer voll toter Insekten waren. Das kommt heute nicht mehr vor, es ist ein weltweiter Trend. Die Ursachen dafür sind vielfältig, unter anderem auch die intensive Landwirtschaft.

    Inwiefern trägt die intensive Landwirtschaft zum Insektensterben bei?  

    Sicherlich spielt auch der Einsatz von Pflanzenschutzmitteln eine Rolle, in welchem Ausmaß ist noch unklar. Die Verarmung der Habitate und der Ökosysteme spielt aber eine größere Rolle. Laut den ersten Ergebnissen unseres Biodiversitätsmonitoring, das nun seit fünf Jahren durchgeführt wird, weisen extensiv bewirtschaftete Wiesen und Weiden die höchste Tagfalter-Vielfalt auf, auch in Tallagen. Obstanlagen wie Apfelwiesen haben eine sehr niedrige Tagfalter-Vielfalt, weil dort für sie keine guten Lebensbedingungen herrschen. Sie finden dort beispielsweise auch nicht die richtigen Futterpflanzen, die Temperatur- und Windverhältnisse stimmen möglicherweise nicht, es spielt also nicht nur der Einsatz von Pflanzenschutzmittel eine Rolle. 

    Wieso ist die Verarmung der Habitate in Apfelanlagen ein Problem?

    Wenn in einer Obstanlage eine hohe Biodiversität herrscht, dann schafft es dieses Ökosystem auch besser mit neuen Schädlingen umzugehen. Ein gutes Beispiel dafür sind Streuobstwiesen. Natürlich sind Monokulturen deutlich angreifbarer für Schädlinge und Krankheiten. Ein Schädling findet dort ideale Bedingungen vor, er hat dort überall Wirtspflanzen und wenig natürliche Feinde.

    „Meines Erachtens liegt die Zukunft der industriellen Landwirtschaft auch in einer Kombination von Robotik und künstlicher Intelligenz.“

    Wieso stellt das Insektensterben auch eine Bedrohung für uns Menschen dar?

    Die Biodiversität ist wie ein Schutznetz. Mit der Abnahme der Insekten-Biomasse geht auch ein Rückgang der Vielfalt und der Zahl von Vögeln einher. Sie sind nicht mehr ausreichend imstande ihre Jungen aufzuziehen, weil sie zu wenig Nahrung haben. Wenn es weniger Vögel gibt, werden auch weniger Schädlinge gefressen. Und wichtig für die Landwirtschaft, viele Insekten spielen eine wichtige Rolle als Bestäuber.

    Was ist also Ihre Empfehlung an die Politik und Landwirtschaft, um Ernährungssicherheit und Naturschutz zu gewährleisten?

    Das ist eine schwierige Frage. Solange wir acht Milliarden Menschen sind, werden wir auch in Zukunft eine intensive Landwirtschaft brauchen. In den 50er, 60er Jahren hatten wir deutlich weniger Menschen und die Ansprüche an die Lebensqualität waren geringer. Viele Personen waren in der Landwirtschaft für sehr geringe Einkommen tätig. Das funktioniert heute einfach nicht mehr, weil sich die Gesellschaft verändert hat. 

  • Intensive Landwirtschaft: „Obstanlagen wie Apfelwiesen haben eine sehr niedrige Tagfalter-Vielfalt, weil dort für sie keine guten Lebensbedingungen herrschen.“ Foto: Hannes Meraner
  • Gleichzeitig haben wir eine Biodiversitäts- und Klimakrise, die uns vor Augen führt, dass wir gerade den Karren an die Wand fahren, auch wegen der industriellen Landwirtschaft. 

    Wir können in der industriellen Landwirtschaft die Biodiversität fördern, Aspekte dazu stehen im Green Deal der EU. Es sind aber auch ganz einfache Ansätze möglich, um die Strukturvielfalt und die Vernetzung von Lebensräumen zu erhöhen. Davon brauchen wir mehr, vor allem in der industriellen Landwirtschaft. Es braucht mehr Blühstreifen oder Kleinstrukturen wie Steinhaufen oder Hecken. Die Landschaft muss vielfältiger werden, um diesen verschiedenen Arten Lebensräume zu schaffen. 

    „Hier spielt sowohl der Preis als auch die Auswahl des Angebots eine Rolle.“

    Ist es damit getan?

    Meines Erachtens liegt die Zukunft der industriellen Landwirtschaft auch in einer Kombination von Robotik und künstlicher Intelligenz. Diese ermöglichen eine intensive Nutzung, die aber umweltschonender ist als heute. In Südtirol wurde beispielsweise ein Roboter für die chemische Ausdüngung von Blüten entwickelt, der bei jedem Baum eine maßgeschneiderte Dosierung durchführt. Damit konnten 90 Prozent Wasser eingespart und die Belastung der Umwelt durch Chemikalien drastisch reduziert werden. Ähnliches gilt für den Einsatz von Pflanzenschutzmitteln, um mit kleineren Mengen arbeiten zu können. 

    Klingt gut, aber Maßnahmen für den Klimaschutz fehlen in Ihrer Empfehlung noch.  

    Um die Transformation hin zu mehr Biodiversitäts- und Klimaschutz hinzukriegen, brauchen wir auch den Einsatz der Konsumentinnen und Konsumenten. Hier spielt sowohl der Preis als auch die Auswahl des Angebots eine Rolle. Es muss zum einen nicht immer das günstigste Produkt sein, zum anderen brauchen wir nicht über das ganze Jahr frische Erdbeeren. Trotzdem wird es den Güterexport immer brauchen, wobei unter anderem aber die Anstrengungen intensiviert werden müssen, um die Lkw-Flotte mit erneuerbaren Energien zu betreiben. Wir müssen den Mut aufbringen, hier stark zu investieren.