Dem Schweigen zuhören
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Karla ist 1962 erst zwölf Jahre alt, dennoch muss sie bereits für sich einstehen. Eines Tages erscheint sie auf einer Polizeistation irgendwo bei München und sagt, sie würde gerne Anzeige erstatten. Wen gilt es anzuzeigen, nun, ihren eigenen Vater. Und warum genau? Karla zitiert aus dem Gesetzbuch, nennt unsittliches Berühren einer Minderjährigen als Grund, und fragt, ob die Regeln, die in diesem Buch stehen, Menschenrechte also, auch für Kinder gelten. Der Film Karla von Christina Tournatzés macht schnell klar, worum es hier geht. Um ein Thema, über das die Protagonistin selbst kaum zu sprechen vermag. Sie verlangt bloß nach einem Richter und bekommt Richter Lamy vorgesetzt, der sich des Mädchens zunächst widerwillig annimmt. Denn viel scheint er nicht aus ihr herauszubekommen, nicht viel mehr jedenfalls als den Vorwurf der Vergewaltigung durch den Vater, wobei Karla die Beschreibung der Vorfälle nicht über die Lippen kommen möchte. Während sie in einem Mädchenheim untergebracht wird, hadert der Richter mit sich selbst. Nimmt er den Fall an und arbeitet mit wenigen Hinweisen, kaum Beweisen und Zeugen? Welche Chancen wird Karla ihrem Vater gegenüber vor Gericht haben, und welchen Karriereschaden kann der Ausgang des Prozesses, möglicherweise eine peinliche Niederlage, für Lamy haben? Er weiß, Aussage wird gegen Aussage stehen, und dem Opfer wird in einer solchen Ausgangslage selten geglaubt.
Wie oft und was Karla genau passiert ist, sehen wir nicht. Es wird weder ausgesprochen und noch in Bildern gezeigt. Damit umgeht der Film die Falle, selbst voyeuristisch zu werden.
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Karla eröffnet eine Debatte, die der Film zwar im Jahr 1962 ansiedelt, die aber nichts von ihrer Aktualität verloren hat. Noch immer wird den Opfern von sexuellem Missbrauch allzu oft ihre Glaubwürdigkeit abgesprochen, insbesondere Frauen. Handelt es sich um ein Kind, sieht die Situation so wie im Film gezeigt noch einmal düsterer aus. Karla muss sich Vorwürfe anhören, sie hätte in der Vergangenheit bereits gelogen, einmal sogar gestohlen – was auch immer letzteres an ihrer Glaubwürdigkeit in besprochenen Fall ändert. Ihre Lage scheint aussichtlos sein, in einer Zeit, in der sie einem männlichen, gealterten Richter ihre Geschichte erzählen soll, und in der sie zu keinem Punkt einer Frau, geschweige denn einer Psychologin gegenübergesetzt wird. Auch vor Gericht hockt Karla einer Reihe von alten, weißen Männern gegenüber. Hier hat sich mittlerweile sicherlich einiges zum Besseren gewandt, und der Blick in die 60er Jahre zeigt erschreckend, wie leichtfertig mit dem Thema Vergewaltigung und seinen Opfern umgegangen wurde. Der Film basiert einer wahren Begebenheit, was die Dramatik der Erzählung zusätzlich untermauert. Getragen wird sie von Hauptdarstellerin Elise Krieps, der Tochter der Schauspielerin Vickie Krieps. Sie verkörpert ihre Rolle mit großer Intensität und wirkt als Karla meist überzeugend, auch wenn ihr das Drehbuch ein ums andere Mal Sätze in den Mund legt, die zu groß und klug sind, um von einem Kind gesagt zu werden. Sie dienen dazu, Karla ein Stück weiter in Richtung ihres Verbündeten, Richter Lamy zu hieven, denn das natürliche Machtgefälle muss erst bröckeln, ehe Vertrauen entsteht, und in Lamy der Wille wächst, das Meiste für Karla zu riskieren. Deutlich stärker ist der Film ohnehin dann, wenn Karla eben nichts sagt. Ihr Schweigen ist vielsagender als es ihre Worte sind. Es ist an Lamy, das zu begreifen und das Schweigen korrekt zu interpretieren. Aus Sicht des Publikums zeigt der Film einen distanzierten, aber angemessenen Blick auf das Thema. Wie oft und was Karla genau passiert ist, sehen wir nicht. Es wird weder ausgesprochen und noch in Bildern gezeigt. Damit umgeht der Film die Falle, selbst voyeuristisch zu werden. Das filmische Prinzip „Show, don’t tell“ wird verworfen, und wo weder gezeigt noch mit Worten erzählt wird, setzt die Vorstellungskraft des Publikums ein – die traditionell ohnehin die schlimmsten Bilder produziert.
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Inszenatorisch bleibt der Film nah bei den beiden Hauptdarsteller*innen Elise Krieps und Rainer Bock, der ebenfalls eine gute Figur macht. So ordnet sich die visuelle Regie klar der Erzählung unter und kann selbst keine Akzente setzen – muss sie in einem solchen Fall vielleicht auch nicht. Karla bleibt ein dringendes Stück deutsches Kino, das sich in den Dienst jenes Teils unserer Gesellschaft stellt, das Fürsprache am dringendsten benötigt: die Kinder.
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