Politik | Europawahlen 2024

„Vannaci würden sie nur mehr auslachen“

Paul Köllensperger, der Gründer vom Team K, kandidiert für die EU-Wahl. Er will den Green Deal verteidigen, Erasmus Plus ausbauen und sich mit den Kanaren zusammentun.
Paul Köllensperger
Foto: Seehauserfoto
  • SALTO: Herr Köllensperger, haben Sie genug von der Südtiroler Landespolitik?

    Paul Köllensperger: Eigentlich nicht, das ist nicht der Grund. Ich mache seit zehn Jahren Südtiroler Landespolitik und ich finde es weiterhin spannend, grundsätzliche Diskussionen zu führen, zum Beispiel, was der Tourismus für die Allgemeinheit beitragen kann, etwa mit einer Ortstaxe für die Bevölkerung. Wenn man sieht, wie sich die SVP und vor allem die Verbandsfritzen ärgern, dann muss ich sagen, das gefällt mir immer noch gut. Und sie sollten sich keine Hoffnungen machen, auch wenn ich in Europa sitzen sollte, würde ich mich weiter hierzulande fest einmischen. 

    Wieso dann die Kandidatur für das EU-Parlament?

    Es gibt mehrere Gründe dafür. Vor allem schulden wir es unseren 30.000 Wählern, dass wir auch bei dieser Wahl präsent sind. Zum Zweiten sind gerade diese Europawahlen eigentlich ein Referendum zwischen pro und kontra Europa. Wir sind pro Europa und wollen den Feinden Europas Paroli bieten. Es wird wahrscheinlich einen Rechtsruck geben, es werden viele Identitäre und Souveränisten morgen im EU-Parlament sitzen. In einer solchen Situation will ich mir morgen nicht vorwerfen, dass ich nichts getan habe. 

    „Die Kanarischen Inseln wollen eine Gesetzesinitiative auf EU-Ebene anstoßen, um den Wohnraum vor Ausverkauf zu schützen.“ 

    Also ein symbolischer Schritt… 

    Nicht nur. Denn wir haben im Landtag in den letzten Jahren gemerkt, wie stark Europa auch die Landtagsarbeit beeinflusst. Sicher 70 Prozent der richtungsweisenden Entscheidungen kommen aus Brüssel und Straßburg, ob Energiesektor, Warenverkehr und die Transitfrage, Digitalisierung oder Außenpolitik. Die Zukunft Europas und damit auch die Zukunft Südtirols liegt in den Händen der EU. Da ist besser, wenn man mitreden kann und man Dorfmann (Herbert Dorfmann, langjähriger Europaparlamentarier der SVP) nicht alleine oben lässt. Er ist am Landwirtschaftstisch präsent, aber es gibt noch so viel anderes. Deshalb ist es besser, im Europaparlament mit zwei oder drei Stimmen vertreten zu sein und auch andere Themen zu spielen, die Südtirol interessieren. Wir leben in einer Alpenregion, wo das ökologische Gleichgewicht sehr wichtig ist und die ein Transit- und Overtourism-Problem hat. 

  • Paul Köllensperger: „Eigentlich sind wir recht pragmatisch und suchen Lösungen für Probleme, dann kann diese Lösung mal eher links, mal eher rechts sein.“ Foto: Seehauserfoto

    Inwiefern?

    Südtirol ist laut der neuen Eurostat-Studie auf Platz vier der überlaufensten Tourismusdestinationen in der EU, nach der Südlichen Ägäis, den Ionischen Inseln und der kroatischen Adriaküste. Wir sind einer der Hotspots und das wissen wir auch. Das führt dazu, dass Touristen hier Wohnraum kaufen oder heimische Unternehmer Wohnungen über Airbnb an Touristen vergeben. Wohnraum wird für die einheimische Bevölkerung dadurch teurer, teilweise unerschwinglich und teilweise findet man nichts. Mietwohnungen im Bozner Zentrum gibt es keine, ich habe selbst eine gesucht. Es ist an der Zeit, dass die Menschen hier dafür etwas zurückbekommen. 

    Was hat das mit der EU zu tun?

    Ich bin ein Fan des Binnenmarktes, er hat die Staatsgrenzen fast aufgehoben und Europa durch freien Waren- und Personenverkehr zu einem der stärksten Wirtschaftsräume gemacht. Wenn aber in Bereichen wie Tourismus oder Transit die Belastung zu groß wird, dann bräuchte es hie und da eine kleine Dosis Protektionismus, um die ansässige Bevölkerung zu schützen, wenn gewisse objektive Parameter überschritten werden. Die Kanarischen Inseln haben noch viel größere Probleme wie wir und wollen eine Gesetzesinitiative auf EU-Ebene anstoßen, um den Wohnraum vor Ausverkauf zu schützen. 

    Man hat manchmal Schwierigkeiten, das Team K einzuordnen. Wo verorten Sie selbst Ihre Partei im politischen Spektrum?

    Irgendwie freut es mich. Der Landeshauptmann bezeichnete mich einmal als Wirtschaftsliberalen, die Rechten sagen, wir sind Linke. Eigentlich sind wir recht pragmatisch und suchen Lösungen für Probleme, dann kann diese Lösung mal eher links, mal eher rechts sein. Im Grunde sind wir aber eine Partei, die sich nicht durch eine Ideologie definiert, sondern durch viel Pragmatismus. Wir spielen so die Nachhaltigkeit in allen drei Säulen, also ökologisch, wirtschaftlich und sozial. Wobei unsere Positionen im sozialen Bereich wahrscheinlich eher als links bezeichnet werden, in der Wirtschaft eher als liberal. Bei der Ökologie vertreten wir den Standpunkt, dass man natürlich die Dekarbonisierung vorantreiben muss, aber mit Hausverstand und umsetzbaren Lösungen und eben nicht mit Ideologie. 

    „Die EU ist die einzige Chance, Europa überhaupt noch Gewicht in der globalen Szene zu geben.“ 

    Ist in Zeiten wie unseren eine Ideologie nicht wichtig, um sich zu bestimmten Werten zu bekennen?

    Natürlich, zu solchen Werten bekennen wir uns. Wie selbst bezeichnen uns als sozial-liberal. Wir sind proeuropäisch, für die Bürgerrechte und für die Freiheit der Menschen. Aber wieso muss die Lösung für die konkreten Probleme von morgen rechts oder links sein? Wir haben Probleme im Sanitätsbetrieb, mit Overtourism und Güterverkehr – hier spielen rechts oder links gar keine Rolle oder? 

    In Vergangenheit haben rechte Politiker eher auf das eigene Wohl geschaut, bestes Beispiel ist der ehemalige US-Präsidenten Donald Trump. 

    Wenn das die Definition ist, dann sind wir ganz sicher nicht rechts. Ich glaub, es weiß jeder, dass wir keine Rechtspartei sind. 

  • Paul Köllensperger: „Jeder Euro für die Rüstungsindustrie ist weggeschmissen, wir bräuchten das Geld für Bildung und Gesundheitswesen.“ Foto: Seehauserfoto
  • Viele Menschen stehen der EU skeptisch gegenüber. Was bedeutet die EU für Sie persönlich?

    Ich gehöre zu der Generation, die in ihrer Jugend noch den Grenzbalken am Brenner erlebt hat. Es war nicht möglich, sich in Europa frei zu bewegen, in einem anderen EU-Land zu studieren und zu arbeiten. Bis vor kurzem gab es noch kein europaweites Roaming. Wenn man mit dem Handy ins Ausland gefahren ist, ist nichts mehr gegangen. Europa ist das Projekt, das uns, aber vor allem der jüngeren Generation einen Binnenraum von 450 Millionen Menschen beschert hat, wo sie überall ihr Glück versuchen können. Interne Konflikte zwischen europäischen Staaten sind in den letzten 70 Jahren weggefallen, während Europa in der Geschichte sonst immer der Schauplatz für die blutigsten Kriege war. Die EU ist die einzige Chance, Europa überhaupt noch Gewicht in der globalen Szene zu geben. Deshalb bedeutet Europa für mich Zukunft und Heimat. 

    Aber?

    Mir ist völlig klar, dass die EU reformbedürftig ist und Schwachstellen hat. Natürlich hat sie auch für Bürokratie gesorgt und in ihrer Regulierungswut oft über das Ziel hinausgeschossen. Aber was würde passieren, wenn wir aus der EU austreten? Auf diese Frage kommt von den Kritikern dann nichts mehr. Wollen wir die Lire zurückhaben? Die Lire würde am ersten Tag um 30 Prozent abgewertet werden. Benzin und Handy wären nicht mehr bezahlbar. Wir hätten eine Rieseninflation und Kleinstaaterei. Italien wäre wohl wieder ein Land der Auswanderer, und wir mittendrinnen.  Geopolitisch hätte sowieso kein Staat in Europa auch nur irgendwas zu melden. Das ist ein Horrorszenario, das vielen Leuten nicht bewusst ist. 

    „Das sollte der Standard werden, damit lernen unsere Jungen eine Sprache mehr und werden richtige Europäer und Europäerinnen.“ 

    Ein weiteres Horrorszenario wäre, wenn Trump wieder US-Präsident wird und die Finanzierung der NATO herunterfährt. Braucht die EU eine europäische Armee?

    Ich halte es für sinnvoll, ein gemeinsames Berufsheer und keine allgemeine Wehrpflicht einzuführen. Entscheidungen durchlaufen in der EU einen langen Gesetzgebungsprozess, die EU-Armee wird es deshalb sicher nicht in einem Jahr geben und vielleicht auch gar nie. Doch in Summe geben die EU-Staaten 300 Milliarden Euro für Rüstungsspesen aus. Das ist wahnsinnig viel Geld, dreimal so viel wie in Russland und leider ziemlich ineffizient, weil jeder sein eigenes Süppchen kocht. Heute hat kein EU-Land, außer vielleicht Frankreich, ein verteidigungsfähiges Heer. Jeder von uns würde gegen Russland viel weniger standhalten als die Ukraine. Heute ist es die NATO, die uns vor externen Angriffen schützt. Wenn Trump die Wahlen gewinnt, können wir uns aber nicht mehr darauf verlassen. Ein europäisches Heer ist deshalb nicht nur eine Frage der Effizienz, sondern würde uns vor allem mehr Unabhängigkeit von den USA und der NATO bringen, die ja heute de facto unsere Außenpolitik machen. 

    Also ein klarer Befürworter der EU-Armee.

    Na ja, ich mag das alles eigentlich gar nicht. Jeder Euro für die Rüstungsindustrie ist weggeschmissen, wir bräuchten das Geld für Bildung und Gesundheitswesen. Aber es ist halt so, dass in Summe die einzelnen Staaten heute schon 300 Milliarden Euro ausgeben, also machen wir wenigstens was Gescheites draus. Ein europäisches Heer muss dabei unter der Kontrolle des europäischen Parlaments stehen. 

  • Wahl am 8. und 9. Juni: Es werden 720 Abgeordnete für das EU-Parlament gewählt. Foto: Rocco Modugno per SALTO

    Mit welchen Themen wollen Sie auf europäischer Ebene überzeugen?

    Dem Europäische Parlament fehlt heute die Gesetzesinitiative, was absurd ist. Auch die Ernennung der Kommissionspräsidentin sollte geändert werden, Ursula von der Leyen bezeichnet sich als Spitzenkandidatin, kandidiert aber nicht. Zudem sollte der Kommissionspräsident die Mitglieder der Kommission selbst auswählen dürfen und nicht 27 Minister von den 27 Staaten. Der Kommission müsste das EU-Parlament dann in einer Wahl das Vertrauen geben oder nicht. Mir würde es auch gefallen, wenn es bei der Wahl des EU-Parlaments transnationale Listen gäbe, so wie die Fraktionen im Europaparlament. 

    Dann könnte ich als Italienerin einen deutschen oder französischen Politiker ins EU-Parlament wählen?

    Ja, genau.

    „Ich würde den Green Deal verteidigen, aber mir wünschen, dass die Wirtschaft bei dessen Umsetzung stärker miteinbezogen wird.“

    Und abgesehen von den EU-Institutionen?

    Ich würde Erasmus Plus stark ausbauen und neben der Bewegungsfreiheit auch eine richtige Bildungsfreiheit einführen. Das heißt, dass jeder junge Mensch bereits in der Oberschule oder im Studium zumindest ein Auslandsjahr machen kann, wenn nicht das gesamte Studium. Das sollte der Standard werden, damit lernen unsere Jungen eine Sprache mehr und werden richtige Europäer und Europäerinnen. So einen Lega-General wie Vannaci würden sie dann nur mehr auslachen. Der Studientitel aus dem Ausland muss dann auch automatisch anerkannt werden. Das wäre nicht so schwierig zu regeln, aber eine große Errungenschaft. 

    Würden Sie ins EU-Parlament gewählt werden, was wäre Ihre Agenda?

    Aufgrund meiner Erfahrungen in der Arbeitswelt liegt es relativ nahe, dass mir die Themen Wirtschaft, Energie und Digitalisierung liegen. Sollte ich hinein gewählt werden, würde es mich daher sehr interessieren, in der Kommission für Industrie, Forschung und Energie zu arbeiten. Ich würde den Green Deal verteidigen, aber mir wünschen, dass die Wirtschaft bei dessen Umsetzung stärker miteinbezogen wird, das mehr mit Anreizen gearbeitet wird. Die Finanzierung der Maßnahmen muss klar sein und technologieneutral bewertet. Wie sollen zum Beispiel die 600 Milliarden Euro, die nur der Bereich der Gebäudesanierung in Italien kosten würde, finanziert werden? Auch der Klimasozialplan ist heute völlig unterfinanziert. Klimaschutz sollte man immer global sehen und nicht europäisch. Wenn es zum Beispiel effizienter ist, im Amazonas Urwald aufzuforsten oder in Indonesien Palmölplantagen zu rekonvertieren, dann sollten wir das tun. Denn auch so retten wir unser Klima.