Gesellschaft | Interview

„Wollte es lieber nicht wissen“

Angelika Stampfl unterstützt als Präsidentin des AEB Menschen mit Behinderung und ihre Familien. Über die Diagnose ihrer Tochter, Inklusion, Abtreibung und Glaube.
Angelika Stampfl mit Tochter
Foto: privat
  • SALTO: Frau Stampfl, was ist die Aufgabe des Vereins „Aktive Eltern von Menschen mit Behinderung (AEB)“?

    Angelika Stampfl: Der AEB wurde im Jahr 1979 Jahren gegründet, als Südtirol mit der Umsetzung des nationalen Gesetzes zur schulischen Integration hinterherhinkte. Bis vor kurzem stand AEB für „Arbeitskreis Eltern Behinderter“, dieser Name ist allerdings nicht mehr zeitgemäß. Auch heute wollen wir die Aufmerksamkeit auf die Umwelt und die einstellungsbedingten Barrieren lenken, welche die gleichberechtigte Teilhabe der Menschen mit Behinderung an der Gesellschaft behindert. Es steht also nicht die individuelle Beeinträchtigung im Vordergrund, sondern die Behinderung von außen. Das Ziel ist die Barrierefreiheit in allen Belangen. Dieser neue Ansatz basiert auf einem biopsychsozialen Modell in Anlehnung an die UN-Menschenrechtskonvention, das auch für Menschen mit psychischen Erkrankungen oder Abhängigkeitserkrankungen gilt. 

  • Angelika Stampfl: „Heute können wir überall unterwegs sein.“ Foto: privat

    Was meinen Sie mit Barrierefreiheit genau?

    Es hängt von der Behinderung ab, ob jemand beispielsweise im Rollstuhl sitzt oder eine Lernschwäche hat. Die Person muss die Möglichkeit haben, sich frei zu bewegen, sich zu informieren und zu äußern. Heute können Menschen, die über keine oder nur eine eingeschränkte Lautsprache verfügen, sich mithilfe von unterstützter Kommunikation mitteilen. Barrierefreiheit in allen Lebenslagen muss angestrebt werden, wie zum Beispiel in der Schule und Bildung, weiterführend bei der Arbeit. Für viele Menschen mit Behinderung ist es ohne angepassten Arbeitsplatz unmöglich zu arbeiten, obwohl sie es könnten. 

    Wie kann die Inklusion am Arbeitsplatz für Menschen mit Behinderung verbessert werden?

    Im Frühjahr hat der AEB eine große Tagung zur Arbeitsinklusion von Menschen mit Behinderung veranstaltet. In der Vorbereitung dieser Tagung wurde ein Forderungskatalog/Maßnahmenkatalog erarbeitet, bei dem der Fokus darauf liegt, einen guten Übertritt von der Schule auf die Arbeit vorzubereiten und damit den passenden Arbeitsplatz zu finden. Dieser Katalog wurde an die Politik überreicht. Dahingehend sind schon Dekrete für wichtige Schritte und Maßnahmen erlassen worden. Jetzt benötigt es nur einer guten Umsetzung.

    Damit ein Kind mit Behinderung als Erwachsener ein selbstständiges Leben führen und arbeiten kann, braucht es eine gezielte Förderung.

  • Dennoch braucht es weiterhin soziale Einrichtungen, die in einem geschützten Rahmen einen Arbeitsplatz bieten. Viele Menschen mit Behinderung schaffen es auf dem freien Arbeitsmarkt nicht. Trotzdem ist es wichtig, dass sich diese Strukturen öffnen. Beispielsweise führen Gruppen der Einrichtung in Gemeinden Gartenarbeiten durch. Diese Einrichtungen sind aber leider heillos überfüllt und die Wartelisten lang.

    Welche Möglichkeiten haben Unternehmen, um Menschen mit Behinderung anzustellen?

    Mit ein wenig Vorbereitung könnten viele Menschen mit Behinderung in einem normalen Betrieb arbeiten, man muss ihnen auch etwas zutrauen. In einer Bar, einem Geschäft oder auch in einem öffentlichen Betrieb können sie ohne Weiteres Aufgaben übernehmen, wenn man sich ein wenig Gedanken dazu macht und ihnen zur Seite steht. Laut den neuen Richtlinien des Landes erhalten private Arbeitgebende, die Menschen mit Behinderungen über einen befristeten oder unbefristeten Arbeitsvertrag in Vollzeit oder Teilzeit von mindestens 15 Wochenstunden anstellen, Prämien ausbezahlt. Da viele Unternehmen durch den Fachkräftemangel dringend neue Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter suchen, haben in Zukunft vielleicht auch Menschen mit Behinderung eine größere Chance auf dem freien Arbeitsmarkt. 

    Laut AEB fehlt es an Therapieangeboten für Menschen mit Behinderung. Können Sie das erklären?

    In der Kinderrehabilitation der Sanitätsbetriebe sind zu wenige Therapeutinnen und Therapeuten angestellt, vor allem für Logo- und Ergotherapie. Oft gibt es für ausgeschriebene Stellen zu wenig Bewerbungen, deshalb muss vermehrt ausgebildet werden. Damit ein Kind mit Behinderung als Erwachsener ein selbstständiges Leben führen und arbeiten kann, braucht es eine gezielte Förderung, die mit der Geburt/Diagnose beginnt. Meine Tochter konnte zum Beispiel mithilfe der Logotherapie lesen lernen. Sie hat keine Lautsprache entwickelt, kann sich trotzdem gestützt mittels unterstützter Kommunikation mitteilen und hat es somit dennoch geschafft, die Matura zu absolvieren. Bei der Ergotherapie lernen die Kinder zudem mit ihren Händen umzugehen, sich anzukleiden, selbstständig zu essen und so weiter. 

  • Unterwegs: Um Menschen mit Behinderung die Teilhabe an der Gesellschaft zu ermöglichen, sei es wichtig hinaus zu gehen. Foto: privat
  • Der AEB: Der Verein unterstützt seit mehr als 40 Jahren Menschen mit Behinderung und ihre Angehörigen. Foto: AEB

    Stichwort Wertschätzung: Wo muss unsere Gesellschaft noch besser hinschauen, um Menschen mit Behinderung und ihre Angehörigen besser zu unterstützen?

    Südtirol ist auf einem guten Weg. Es pikiert sich niemand mehr, wenn man mit einem Kind mit Behinderung unterwegs ist. Schon in den Kitas, Kindergärten und Schulen lernen Kinder den Umgang mit Menschen mit Behinderung. Die ganz Kleinen merken das nicht einmal, für sie ist alles normal. Sie sind es später gewohnt, dass so ein Kind unter ihnen ist und wachsen damit auf. Man muss als Eltern aber schon viel Rückgrat haben, gerade wenn man ein Kind mit schweren Auffälligkeiten hat. Es verlangt von einer Familie sehr viel Energie, mit einem Kind in die Gesellschaft hinaus zu gehen, vor allem, wenn es besondere Verhaltensweisen aufzeigt. 

    Wenn es dann so kommt, ist man zuerst schockiert, wütend, traurig. 

  • Man zieht Blicke auf sich.

    Ich spreche aus eigener Erfahrung. Meine Tochter hat Autismus und hatte während ihrer Pubertät große Probleme. Sie bat mich aber immer wieder, mit ihr außer Haus zu gehen, nachdem sie über Monate nicht das Haus verlassen wollte/konnte, weil sie große Ängste entwickelt hatte. Als wir es trotzdem schafften hinaus zu gehen, konnte es passieren, dass sie in der Stadt eine halbe Stunde lang auf der Straße saß, sich gebissen oder geschrien hat. Ich stand neben ihr und beruhigte die vorbeigehenden Menschen oder plauderte mit Bekannten, was sie dann ablenkte. Das muss man aushalten. Heute können wir überall unterwegs sein, gehen gerne gemeinsam schwimmen, in Konzerte, ins Theater, besuchen Sonntags die heilige Messe, die Menschen kennen uns mittlerweile. 

    Wie reagieren Eltern auf die Diagnose einer Behinderung aus Ihrer Erfahrung?

    Natürlich denkt man nie, dass man Eltern von einem Kind mit Behinderung wird. Wenn es dann so kommt, ist man zuerst schockiert, wütend, traurig. Man muss es zuallererst einmal selbst verarbeiten und akzeptieren. Dann muss man lernen mit dem Kind rauszugehen. Das ist nicht immer einfach und nicht alle Eltern schaffen es, die Diagnose zu verkraften. Mir persönlich hat mein Glaube dabei sehr geholfen. 

    Wenn Eltern sich nicht zutrauen, ein Kind mit Behinderung großzuziehen, ist es auch legitim, diese Untersuchung durchzuführen.

    Wir als Verband wollen neben der Unterstützung der öffentlichen Hand eine Hilfestellung für Eltern sein, etwa wenn die Diagnose bereits bei der Geburt feststeht, und einfach dann, wenn wir zur Hilfe gebeten werden. Wir bieten auch Fort-und Weiterbildung an, beispielsweise gab es kürzlich einen Vortrag in Brixen über das Thema, „wenn die Gedanken sorgenvoll um das Kind kreisen“. Dabei ging es um die Fragen: Werde ich mir und der restlichen Familie gerecht, auch wenn ich für das Kind mit Behinderung verantwortlich bin?

    Eine Frage von Zeit und Ressourcen, nehme ich an.

    Meistens kommen wir als Eltern zu kurz. Es ist wichtig, auch einmal nichts zu tun und ohne schlechtes Gewissen eine Pause zu machen. Auch die Geschwister des Kindes mit Behinderung kommen oft zu kurz. Unser Verband organisierte deshalb Spielenachmittage für Geschwister mit psychologischer Betreuung, wo sie ihre Gefühle spielerisch aufarbeiten können. Auf Wunsch der Familien greifen wir viele Themen auf und versuchen dementsprechende Veranstaltungen und Fortbildungen zu organisieren.

    Was würden Sie werdenden Eltern während einer Schwangerschaft empfehlen, wenn das Kind wahrscheinlich mit einer Behinderung zur Welt kommen wird?

    Das muss jede und jeder für sich selbst entscheiden. Bei meinem zweiten Kind, das gesund auf die Welt gekommen ist, habe ich darauf verzichtet, eine pränatale Untersuchung durchzuführen – ich wollte es lieber nicht wissen. Das war meine persönliche Entscheidung. Wenn Eltern sich nicht zutrauen, ein Kind mit Behinderung großzuziehen, ist es auch legitim, diese Untersuchung durchzuführen. Was bei Feststellung der Diagnose dann folgt, ist eine schwierige Entscheidung, die in der Familie und mit sich persönlich zu treffen ist.

    Können alle Behinderungen vor der Geburt diagnostiziert werden?

    Nein, Autismus beispielsweise nicht, das Down-Syndrom hingegen schon. Heutzutage sind Kinder mit Down-Syndrom beinahe eine „aussterbende Behinderung“, weil viele Eltern zur pränatalen Untersuchung gedrängt werden und sich bei einer Diagnose häufig für die Abtreibung entscheiden. 

Bild
Profil für Benutzer Maximi Richard
Maximi Richard Fr., 27.10.2023 - 12:36

Es ist nicht selbstverständlich, dass eine gläubige Person wie Frau Stimpfl, auch Frauen versteht die abtreiben.
Chapeau

Fr., 27.10.2023 - 12:36 Permalink
Bild
Profil für Benutzer Josef Fulterer
Josef Fulterer Sa., 04.11.2023 - 07:52

Kinder mit EIGENHEITEN, BEHINDERUNG ist eine a b - w e r t e n d e ungute Klassifizierung, die von der auf Normierung geprägten Gesellschaft auf ALLES angewendet wird.
Diese Kinder sind bei den oft sehr ausgeprägten positiven Eigenheiten, ganz b e s o n d e r s zu fördern und nicht in der ohnedies sehr kurzen Zeit für die Bildungs-mäßige Entwicklung, mit sehr oft ERGEBNIS-losen NORM-ierungs-Bemühungen zu plagen.

Sa., 04.11.2023 - 07:52 Permalink