Das übliche Chaos am Morgen
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6:30 Uhr
Ich sitze im Bus auf dem Weg zur Schule. Ich werfe noch einen Blick ins digitale Register, schaue mir an, was heute auf dem Plan steht, während eine Nachricht sich von oben in den Bildschirm hineinschiebt: „Integrationslehrperson krank“. Ich atme tief durch. Das bedeutet: keine zusätzliche Unterstützung in der Klasse, keine vorbereiteten Differenzierungsmaterialien und ich allein in einer Klasse, in der nicht nur die Bandbreite an Lernständen riesig ist, sondern die auch aufgrund von Verhaltensaufälligkeiten einiger Schülerinnen und Schüler schwer zu händeln ist.
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Aus dem Tagebuch einer Grundschullehrerin
Maria T. schildert den Tagesablauf einer Grundschullehrerin – vom frühen Morgen bis zum Feierabend. Damit möchte sie die Realität des Schulalltags sichtbar machen: die Anforderungen, Belastungen und strukturellen Probleme, die häufig hinter den Kulissen versteckt bleiben. Das Tagebucheiner Grundschullehrerin auf SALTO ist der Versuch aufzuzeigen, wie der Schulalltag tatsächlich aussieht: zwischen Unterricht, Betreuung, Verwaltungsaufgaben, Elterngesprächen und den vielfältigen Anforderungen, die an Lehrpersonen gestellt werden.
Die Autorin möchte anonym bleiben. Wir kommen diesem Wunsch nach, darum haben wir den Namen der Autorin geändert. Der richtige Name ist der Redaktion bekannt.
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7:15 Uhr
Ich laufe die Stufen zur Eingangstür hinauf, direkt ins Lehrerzimmer, krame meine Mappe mit den Differenzierungsunterlagen raus, suche schnell eine passende Leseübung und haste zum Kopierer. „DIN-A4-Druck funktioniert nicht“ steht da mit großen Lettern auf einem Post-it, das am Einschubfach klebt. Egal. Ich drucke DIN A3 und schneide es anschließend zurecht. Der Tag, an dem ein Kopierer in der Schule einwandfrei funktioniert, muss noch erfunden werden.
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7:30 Uhr
Pünktlich um halb acht stehe ich im Garten vor der Schule und warte, dass die 21 Kinder meiner Klasse kommen. Manche rennen fröhlich auf mich zu, umarmen und drücken mich, andere schlürfen langsam und noch halb verschlafen in meine Richtung. Ich versuche, jedem ein Lächeln und ein Guten Morgen zu schenken, obwohl ich innerlich schon die To-Do-Liste durchgehe: differenzierter Unterricht alleine, Lesekompetenzerhebung muss verschoben werden, Pausenaufsicht, Supplenzstunde, Hausaufgabenhilfe, Gespräch mit der Direktorin, am Nachmittag.
Er weigert sich, wie an fast jedem Morgen, in die Klasse zu kommen, er sagt, er habe heute keine Lust.
An der Garderobe vor dem Klassenzimmer das übliche morgendliche Chaos. Ich versuche, Ruhe hineinzubringen, während ich gleichzeitig darauf achte, dass niemand stolpert, dass sich nicht alle gegenseitig anbrüllen und alle pünktlich in den Klassenraum kommen. Bis die Jacken hängen, die Schuhe gewechselt und alle Rucksäcke verstaut sind, sind die ersten zehn Minuten des Schultags schon um. 20 der 21 Kinder sind nun im Klassenzimmer, nur S. fehlt noch. Er weigert sich, wie an fast jedem Morgen, in die Klasse zu kommen, er sagt, er habe heute keine Lust, er wolle im Hof Fußballspielen. Ich bitte ihn herein, aber darauf grinst er mich nur an. Ich nehme ihn bei der Hand, sage, dass er in der Pause wieder spielen könne und will ihn in die Klasse führen. Als er seinen Körper dagegenstemmt und lauthals losschreit, lasse ich ihn los und setze ihn auf die Garderobenbank. Ich sage, er könne in die Klasse kommen, wenn er so weit sei. Wir haben in den letzten Wochen alles Mögliche versucht, ihn für den Unterricht zu motivieren und ihm zumindest die Grundkompetenzen des Lesens, Schreibens und Rechnens vermitteln zu können - vergebens.
Ich lasse die Tür offen und gehe zu den anderen Kindern in die Klasse. Dort reden alle durcheinander, die Kinderstimmen überschlagen sich. Manche stehen noch herum, andere trommeln auf die Tische oder zappeln auf ihren Stühlen. Es dauert — wie jeden Morgen — einen Moment, bis langsam Ruhe einkehrt. Schließlich gelingt es mir, mit einem vertrauten Signal die Aufmerksamkeit auf mich zu lenken. Wir bilden den Morgenkreis und beginnen mit unserem Ritual: einem gemeinsamen Lied. Für ein paar Minuten kehrt Ruhe ein - zumindest im Klassenzimmer. Draußen hört man S. herumlaufen und gegen die Garderobenbänke trommeln. Ruhige Lernatmosphäre? Fehlanzeige.
Und dann ist da natürlich auch noch der eine Schüler, der nicht sitzen kann. Er liegt unterm Tisch.
Eigentlich wollte ich in den zwei Deutschstunden einzelnen Schülerinnen und Schülern gezielt die Möglichkeit geben, an ihrer Lesekompetenz zu arbeiten, indem ich sie in Kleingruppen nacheinander mit der Integrationslehrperson hinausschicke.
Nun muss ich gleichzeitig den Unterricht leiten, individuelle Förderung anbieten und den Rest der Klasse bei der Arbeit halten. Ich jongliere zwischen einer Schülerin, die gerade ihre ersten Wörter mühsam entziffert, und einem Schüler, der sich langweilt, weil der Text für ihn viel zu leicht ist. Ein anderer hat heute ganz offensichtlich keinen guten Tag und verweigert jede Mitarbeit. Und dann ist da natürlich auch noch der eine Schüler, der nicht sitzen kann. Er liegt unterm Tisch, oder dreht seine Runden in der Klasse, bei denen er die anderen Kinder schubst, was jeden Tag aufs Neue zu Streitereien führt und einige andere Kinder dazu animiert, ebenso in der Klasse herumzulaufen. Er arbeitet nur, wenn eine Lehrperson neben ihm sitzt. Alle paar Minuten werfe ich einen Blick nach draußen zu S., der noch in der Garderobe ist.
Auch mit Integrationslehrperson in der Klasse ist es jeden Tag aufs Neue ein Abwägen und ein Priorisieren der Dringlichkeiten. Allen Bedürfnissen kann man auch zu zweit nicht gleichzeitig gerecht werden.
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10 Uhr
Ich begleite die Kinder in den Pausenhof; für sie ist es Freizeit, für mich Aufsicht. Und tatsächlich schaffe ich es nicht einmal, meine mitgebrachte Packung Maiswaffeln zu öffnen, bis ein Mädchen weinend angelaufen kommt, weil es beim Spielen hingefallen ist. Ich gehe zurück ins Schulhaus, hole einen Eisbeutel, lege ihn auf das verletzte Knie und spreche dem Mädchen gut zu. Dann kommt die Kollegin, die heuer die vierte Klasse übernommen hat, auf mich zu und will nur schnell was nachfragen. Sie ist neu an der Schule, Quereinsteigerin, sehr bemüht und macht einen guten Eindruck auf mich. Natürlich weiß ich, wie überfordernd die ersten Wochen an einer neuen Schule sein können – besonders, wenn man nicht klassisch ausgebildet wurde. Und deshalb höre ich zu, obwohl ich eigentlich selbst kaum Luft habe. Die zweistündige Einführung zu Beginn des Schuljahres ist bei Weitem nicht ausreichend, um alles Organisatorische, das zum Lehrberuf auch dazugehört, ausreichend zu verstehen, um es dann gut umsetzen zu können.
Ich erinnere mich selbst noch an das Gefühl der Hilflosigkeit und Überforderung, das ich zu Beginn meiner Lehrtätigkeit fühlte. Und ich kam immerhin von der Uni und hatte bei diversen Praktika schon ein bisschen Einsicht in den Schulbetrieb erhalten. Sie hat Fragen zur Dokumentation im digitalen Klassenregister. Ich erkläre ihr geduldig die verschiedenen Möglichkeiten und worauf sie achten muss: Notizen zur Lernentwicklung, Fördermaßnahmen, Gesprächsprotokolle.
Es fühlt sich für mich nicht gut an, Sprachpolizei zu spielen.
Neben uns spielt eine Gruppe Kinder squalo, ein Fangenspiel. Wieder einmal beobachte ich, dass die Umgangssprache in der Pause hauptsächlich Italienisch ist; und auch im Unterricht sprechen die Kinder untereinander oft Italienisch. Deshalb habe ich mit den Kindern meiner Klasse vereinbart, dass sie in der Pause selbst wählen können, in welcher Sprache sie untereinander sprechen, im Unterricht sollte aber möglichst Deutsch gesprochen werden. Es fühlt sich für mich nicht gut an, derartige Regeln aufzustellen und Sprachpolizei zu spielen — aber ich versuche, den Kindern dadurch Raum zu schaffen, in dem sie Deutsch üben können.
Mein Blick fällt auf die Uhr. Die Pause neigt sich dem Ende zu, und ich merke, wie sich mein ohnehin enger Zeitplan weiter verdichtet. Keine Minute ohne Aufgabe. Ich laufe noch schnell ins Schulhaus, um auf die Toilette zu gehen. Ich weiß, dass ich damit meine Aufsichtspflicht verletze — aber an einem derart durchgetakteten Vormittag bleibt mir keine andere Möglichkeit. Ein Toilettengang ist offiziell nicht vorgesehen. Die mitgebrachte Jause liegt ungeöffnet in der Tasche.
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Fortsetzung folgt!
Morgen, am 16. November, könnt ihr den zweiten Teil des „Tagebuchs einer Grundschullehrerin“ lesen.
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