Kultur | SH-Jubiläum

„Der unfeierliche Zustand der Welt“

Beim gestrigen 70. SH-Jubiläum spricht Andreas Pfeifer über Südtirols kritische Geister, die Welt der Willkür und das Aufbegehren der Studierenden. Seine Rede in voller Länge.
Andreas Pfeifer
Foto: Seehauserfoto
  • Liebe Studentinnen und Studenten, 
    liebe ältere Semester, 

    vielen Dank für die Einladung, in dieser Feierstunde etwas über den Zustand der Welt zu sagen. Sehr feierlich ist er nicht, das darf ich schon einmal vorwegnehmen. Wiewohl ich natürlich – als ein notorisch Heimatferner – nicht wirklich erkennen kann, wie es im Nabel der Welt gerade so aussieht, also hier, in Südtirol. Da müssen schon Sie mir weiterhelfen. 

    Als ich mich fragte, was ich zum Jubiläum der Hochschülerinnenschaft beitragen kann, ist mir zunächst nicht viel eingefallen. Ja, studiert habe ich auch einmal, Germanistik, Musikwissenschaft,  in Innsbruck. Ja, die Dienstleistungen der SH zur finanziellen und psychischen Kräftigung eines in die weite Welt versprengten Landsmanns habe ich damals auch  bereitwillig in Anspruch genommen. Viel mehr war da nicht. Dann aber, beim Stöbern in den Erinnerungsarchiven,  bin ich auf eine meiner ersten Radioreportagen für den ORF gestoßen. Datum: 15. Februar 1990. Titel: „Der Traum des Kosmopoliten - Untertitel:  Warum die Südtiroler an der Uni Innsbruck so unsympathisch sind.“ Meine Beobachtungen damals: Sie bleiben von Montag Mittag bis Donnerstag Abend, sie lassen sich von der Mama mit hausgemachten Lebensmitteln und frischer Wäsche versorgen, sie pendeln über den Brenner, sie pendeln – je nach Selbstdarstellungsbedarf – zwischen „älplerischer Grobschlächtigkeit und Italo-Coolness“ Wohlgemerkt: Das sind nun wirklich sehr subjektive Wahrnehmungen aus dem sehr fernen Jahr 1990. Sie können daran auch die Pendelbewegung der Geschichte ermessen: Nichts von dieser Diagnose stimmt heute mehr, die Geschwisterlichkeit zwischen Nord- und Süd hat sich stark entwickelt, der Traum vom kosmopolitischen Südtiroler ist längst in Erfüllung gegangen. Oder nicht? Da müssen schon Sie mir weiterhelfen. 

  • Zur Person

    Andreas Pfeifer ist in Bozen geboren und aufgewachsen. Er studierte Germanistik und Musikwissenschaft an der Universität Innsbruck. Seit 1988 ist er als ORF-Korrespondent in Bozen, Washington, Rom tätig. Derzeit Studioleiter des Korrespondentenbüros in Berlin.

  • Meine Beiträge zur kritischen Selbstwahrnehmung haben sich dann noch in einem Skolast-Artikel zu den mutmaßlichen Anachronismen der Volksmusik und in einer Vertonung von Gedichten von Norbert Conrad Kaser erschöpft. 

    Norbert C. Kaser? Ja, jener Dichter, der im noch viel  ferneren Jahr 1969, auf einer Studientagung Ihrer Hochschülerschaft, seine Brandrede auf die Zustände der Südtiroler Welt gehalten hat, auf ihre Nabelschau gewissermaßen.  Der damals sagte, dass "bei uns noch noch so viele heilige Kühe herumstehen, dass man vor lauter Kühen nichts mehr sieht", dass das "Schlachtfeld grandios werden wird... und die Italiener dann auch mit von der Partie  sind, auch sie haben die heiligen Kühe, herdenweis.“ Dass in der Kulturpolitik „bei Goethe stop“ ist. Dass „RAI, Dolomiten und Athesia zur Volksverblödung beitragen.“ 

    Uralte Zeiten also, auch hier, nichts davon ist mehr wahr. Südtirol ist heute modern  und weltoffen, kulturell, politisch, medial, längst sind alle heiligen Kühe geschlachtet. Oder nicht? Da müssen schon Sie mir weiterhelfen. 

    Man könnte nun – aus Anlass des Hochschülerschaftsjubiläums – noch sehr viele kritische Geister nennen, die sich in diesem Verein engagiert haben. Martha Stocker zum Beispiel, die in Kreisen ihrer eigenen Partei damals als „rote Socke“ galt, nur weil sie dabei war. Oder Günther Pallaver, einer Ihrer ehemaligen Vorsitzenden, der damals mit der SH  bewusst Kontrapunkte setzen wollte. Und deshalb, so sagt er in einem Interview, „hat sie damals jede Woche von der Dolomiten und der SVP eine über die Rübe bekommen.“ Bis hin zu Eurem Gründungsvater und ersten Vorsteher Franz von Walther. Der sich, 1955, noch gegen ganz andere Herausforderungen stemmen musste; gegen die Nachwehen der faschistischen Bevormundung, auch schon gegen den Versuch, die SH kurzerhand zur Parteijugend der SVP umzuschmieden.  Bei all dem ging es,  so erzählt er, um die „glaubhafte Bekundung einer europäischen Gesinnung, die bei der Verteidigung des Deutschtums in Südtirol auch mit der ehrlichen Wertschätzung der italienischen Kultur verbunden sein muss.“ Und so dann auch in der SH-Resolution vom 23. Dezember 1955 geschrieben: „Die Regierung möge den Abschluss ähnlicher Abkommen mit allen anderen befreundeten Ländern Europas in die Wege leiten, auf dass das europäische Zusammengehörigkeitsgefühl der akademischen Jugend weiterhin gestärkt wird.“ 

     

    Ich habe den dringenden Verdacht, dass auch Sie den Geist des Widerstands, des kritischen Hinterfragens, auch des mutigen Aufbegehrens noch brauchen werden. 

     

    Warum, liebe Studentinnen und Studenten, warum schweife ich ich so weit zurück. Warum komme ich mit diesem Schnee von gestern ? Wir und Sie leben heute ja in völlig anderen Zeiten. Weil sich die Zeiten nun einmal geändert haben und mit Ihnen das ganze Land an Eisack, Etsch und Rienz, Südtirol, seine Studierenden, die Literatur, die Politik, die Medien, die Volkspartei, die Rai, ja, – mutmaßlich – auch die Athesia. Alexander von Walther, Ihr jüngster Chef und ein Enkel des Allerersten, sagt heute in einem Interview: „Damals war die SH eine außerparlamentarische Opposition. Das ist sie heute nicht mehr. Wir können Kante zeigen und diplomatisch sein.“

    Dazu – und zum 70. – gratuliere ich. Nur zwei kurze Anmerkungen. Erstens: Dass Sie das heute können – Kante zeigen und diplomatisch sein – ist auch eine Hinterlassenschaft all derer, die mit der damaligen Südtiroler Welt gehadert haben, die gekämpft und gelitten haben, die an ihr verzweifelt sind, die gegen sie angeschrieben und angedichtet haben; eine mühsam errungene Leistung  auch dieser „Linksgrünversifften“, wie man sie heute gerne nennt, die sich all jene Freiheiten herausgenommen haben, die die auf der anderen Seite nicht gewähren wollten. Ja, wir alle, die coolen, pragmatischen, weltläufigen Südtirolerinnen  genießen den Kollateralnutzen ihres Aufbegehrens. Ich, der Journalist, Sie, die Studentinnen und Studenten, auch Sie, die heute das Land verwalten und regieren. Und zweitens: Ich habe den dringenden Verdacht, dass auch Sie den Geist des Widerstands, des kritischen Hinterfragens, auch des mutigen Aufbegehrens noch brauchen werden. Warum? Wegen des unfeierlichen Zustands der Welt. Weil das, was Franz von Walther damals vorschwebte, ein völkersöhnendes, freundschaftliches, geeintes Europa heute gefährdet ist wie noch nie seit der Gründung der SH. Oder etwa nicht? Da kann ich Ihnen weiterhelfen. 

  • Bekannte Ehrengäste: Auch Altlandeshauptmann Luis Durnwalder war beim Jubiläum der SH dabei. Foto: Seehauserfoto
  • Beginnen wir unsere kurze Reise jenseits heimatlicher Horizonte gleich jenseits des Brenners, in unserer Schutzmacht Österreich. Im Zeremoniensaal der Wiener Hofburg findet am 4. Mai 2018 ein Gedenkakt  für die Opfer des Nationalsozialismus statt. Das Zeremoniell ist vertraut. Es werden Reden gehalten, gebaut aus den überkommenen Versatzstücken der Erinnerungskultur: „Nie wieder“, „Niemals vergessen“, „Lernen aus der Geschichte“. Doch dann tritt  der Schriftsteller Michael Köhlmeier aus dem  Bannkreis des Abgehangenen und Abgehakten heraus und spricht über aktuelle Einzelfälle. Über eine rechtsnationale Zeitschrift, die ehemalige Häftlinge des Konzentrationslagers Mauthausen als „Landplage“ tituliert hat. Über den damals  amtierenden  österreichischen Innenminister Herbert Kickl, der gesagt hat, dass es gelingen kann, „Asylwerber konzentriert an einem Ort“ zu halten. Und dann formuliert Michael  Köhlmeier einen Satz, der sowohl über den aktuellen Anlass als auch über die ritualisierte Erinnerung hinausragt:  

    „Zum großen Bösen kamen die Menschen nie mit einem großen Schritt, sondern mit vielen kleinen, von denen jeder zu klein schien für eine große Empörung. Erst wird gesagt, dann wird getan.“ 

    Das war im Mai 2018, das ist ziemlich lange her. Inzwischen sind wir schon einige Schritte weiter, in Österreich und im Rest der Welt. Inzwischen wird getan, in großen Schritten, und ebenso groß ist die Bewirtschaftung der wechselseitigen Empörung. Österreich ist auch längst kein Einzelfall mehr, mittlerweile ist der Gestus der mutwilligen Grenzüberschreitung systemisch etabliert und internationalisiert. Er hält sich auch schon lange nicht mehr mit der Rhetorik der hypothetisch raunenden Vorankündigung auf. Inzwischen hat der Demokratieverächter Donald Trump einen Überfall auf das Kapitol, die Zentralanstalt der amerikanischen Demokratie, angezettelt, inzwischen unterzeichnet er mit fetten Federstrichen Dekrete, die den amerikanischen  Rechtsstaat und diverse transatlantische Traditionen versenken. Inzwischen hat der Kriegsverbrecher Vladimir Putin einen Angriffskrieg vom Zaun gebrochen, ein Nachbarland überfallen, dessen Dörfer und Städte in Schutt und Asche gelegt. Inzwischen hat die Terrororganisation Hamas unschuldige israelische Menschen ermordet, inzwischen lässt die israelische Regierung unschuldige Menschen in Gaza verhungern. Inzwischen verzerren  monopolistische Technologiekonzerne die Politik, die Märkte, die Daten- und die Gedankenströme von Milliarden Menschen, User genannt. Inzwischen läuft ein beträchtlicher Teil des politischen Diskurses nicht mehr im Fahrwasser der Argumentation, sondern über „die Hass- und Verblödungsmaschinerie“  der sogenannten sozialen Medien – so formuliert es Alexander von Walther.

     

    Politik, die gestern etwas versprochen hat, heute dessen Gegenteil tut und morgen das Vorgestrige zur Zukunft erklärt.

     

    Ich will hier nicht länger eine apokalyptische Litanei herunterbeten. Sie können Sie  den sozialen Medien entnehmen. Oder vielleicht dem alten Medium Fernsehen, sofern nicht auch Sie schon einem Abschaltimpuls erlegen sind. Aber für meine Diagnose gäbe es Indizien: 

    Wir sind in einer Welt der Willkür angelangt. Und die Drift ins Autoritaristische und Autoritäre, die mit großen Schritten über die  großen Bühnen der Krisen, Kriege und Konflikte zieht,  bewegt und verändert – in kleineren Schritten – auch die Binnenstruktur europäischer Demokratien. Italien wird von einer Postfaschistin regiert, in Deutschland ist die AFD zur zweitstärksten Partei geworden, deren Schwesterpartei FPÖ rangiert in Österreich auf dem ersten Platz.  Solche  Veränderungen, dafür spricht vieles, werden nachhaltig sein. Doch die Halbwertszeit der Fakten und der Fiktionen schrumpft. Der Journalismus, der selbst in den Malstrom ökonomischer, technologischer und politischer Bevormundungen geraten ist, schafft es kaum noch, einen schlüssigen  Erzählstrang  einer  Politik zu flechten, die gestern etwas versprochen hat, heute dessen Gegenteil tut und morgen das Vorgestrige zur Zukunft erklärt. Der Regelbruch ist der neue Trend:  Gemeint die Zurückdrängung der Streitkultur durch das Gezeter und Gezänk  in sozialen Medien;  gemeint ist der zunehmende Verzicht  der Regierenden auf die Mühsal der parlamentarischen Konsens- und Willensbildung. Gemeint ist der manifeste Bruch der Menschenrechte und des Völkerrechts -auf den ganz großen Weltschauplätzen.  Demnächst erscheint ein neues Interview, das einer meiner ORF-Kollegen mit Ted Koppel geführt hat, der über drei Jahrzehnte für den amerikanischen Fernsehsender CBS die Mächtigen dieser Welt befragt hat, unter ausgiebiger Heranziehung der damals noch unangekränkelten Pressefreiheit. Er wird darin gefragt, ob sich Donald Trump heute noch an eine Entscheidung des Supreme Court, des Obersten Gerichtshofes, halten würde. Koppels Antwort: „Ich weiß es nicht.“  Soviel zur ehernen Tradition der „Checks and balances“ in den USA. Es ist ziemlich schnell gegangen. Ich habe als Korrespondent noch erlebt, wie ein gewisser Barack Obama in London einen Handlungsentwurf präsentiert hat, wie der Globalisierung der Finanzmärkte eine Globalisierung der politischen Fairness, der militärischen Abrüstung, der Völkerversöhnung folgen könnte. Wenig später, im Mai 2017, war ich in Taormina. Dort konnte ich beobachten, wie Obamas Nachfolger Donald Trump bei seinem ersten Zusammentreffen mit  den G7-Partnern in Taormina schon nach 10 Minuten die Kopfhörer der Simultanübersetzung abgenommen und einfach nicht mehr zugehört hat. Das war die erste Eintrübung der transatlantischen Tradition, weitere sollten folgen. Und es war jener Gipfel, nach dessen Abschluss Angela Merkel meinte: „Die Zeiten, in denen wir uns auf andere völlig verlassen konnten, die sind ein Stück weit vorbei.“ Heute sind wir bekanntlich schon ein ganzes Stück weiter. Zuletzt konnten wir alle miterleben, wie sich das gesamte Führungsteam Europas im Weißen Haus versammelte, um Donald Trump anzuflehen, er möge die Ukraine nicht seinem Freund Vladimir Putin anheimfallen lassen, er möge doch bitte auch seine Zollpolitik mäßigen. Die politische Elite der EU muss antanzen, um einen erpresserischen Dealer bei Laune zu halten. Soviel zum aktuellen Stand der  Selbstermächtigung Europas. Und jene Machtwillkürlichen, deren Priorität das Recht der Stärkeren, die Aufteilung der Welt  in Einflusssphären und Hinterhöfe ist, liefern sich einen medienöffentlichen Überbietungswettbewerb der Ruch- und der Schamlosigkeit. 

     

    Könnte man sagen, dass die Zeiten, in denen man sich auf Deutschland völlig verlassen konnte, ein Stück weit vorbei sind ?

     

    Genug davon. Sie kennen das. Und für politische Willkür gibt es ja auch genügend historisches Anschauungsmaterial, auch hierzulande. In Rom habe ich lange miterleben dürfen, wie der Urvater des televisionären Populismus, wie Silvio Berlusconi, Regierungschef, Medienzar, Gesetzgeber und Gesetzesbrecher in Personalunion die italienische Demokratie immer wieder kurzgeschlossen hat. Das war auch ein Grund, warum ich gerne nach Berlin wollte, wo ich heute auch zu Hause bin. Und in Berlin – das muss ich Ihnen unbedingt noch erzählen – bin ich am 8. Dezember 2021 der großartigen Geräuschlosigkeit der Demokratie begegnet; im deutschen Bundestag, kurz nach 9 Uhr, zum Antritt der Regierung von Olaf Scholz: Der Kanzler setzt sich auf den Kanzlersessel, seine  Ampelkabinettsmitglieder links und rechts davon. Und die Abgeordneten von CDU und CSU – nach 16 Jahren Regierungsmacht – wechseln auf die Bänke der Opposition. Ganz nach Protokoll, völlig geräuschlos, ein Ereignis von atemberaubender Langweiligkeit. Das – so habe ich damals feierlich gedacht und gesagt – das ist Deutschland, das Land von Maß und Mitte, eine gefestigte Demokratie, wie sie im Lehrbuch steht. So war das, damals. Inzwischen hat sich auch in Berlin einiges verändert. Die Ampelkoalition ist selbstverschuldet in die Brüche gegangen. Und beim Regierungsantritt vom 6. Mai 2025 gibt es bereits ziemlich heftige Nebengeräusche. Erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik wird ein Kanzler erst im zweiten Wahlgang und erst nach ausführlichem protokollarischem Herumrudern zum Kanzler gewählt. Jener Friedrich Merz, der am 13. November 2024 im deutschen Bundestag feierlich gelobt, dass es in Deutschland kein einziges Mal der Fall sein dürfe, dass „eine zufällige oder tatsächlich herbeigeführte Mehrheit mit denen da“ zustandekomme. Mit „denen da“ ist die AFD gemeint. Jener Friedrich Merz, der zwei Monate später – am 29. Jänner 2025 – im deutschen Bundestag einen Entschließungsantrag zur Verschärfung der Migrationspolitik durchsetzt – mit einer tatsächlich herbeigeführten Mehrheit, mit denen da, mit denen von der AFD. Der im Wahlkampf beteuert hat, keinesfalls die Schuldenbremse zu lockern und noch vor seinem Amtsantritt die Schuldenbremse lockert, um hunderte Milliarden Euro für Rüstung und Infrastrktur fließen zu lassen. Jene Bundesregierung schließlich, deren Zurückweisung von Asylwerbern an den deutschen Grenzen bereits von einem Berliner Gericht und mit hoher Wahrscheinlichkeit künftig auch vom Europäischen Gerichtshof als rechtswidrig erkannt wird – und diese Praxis dennoch fortsetzt. Ist das der neue Trend zum Regelbruch? In Deutschland? Könnte man sagen, dass die Zeiten, in denen man sich auf Deutschland völlig verlassen konnte, ein Stück weit vorbei sind? Das Gegenteil ist zu hoffen. Vorerst kann man nur feststellen, dass man sich auf die Pünktlichkeit deutscher Züge überhaupt nicht mehr verlassen kann.  

    Übrigens scheint Michael Köhlmeier mein Faible für geräuschlose Politik zu teilen. „Charismatiker gehen mir auf die Nerven“, sagte er unlängst, „ich sehne mich nach langweiligen Politikern“.  Und nannte den amtierenden österreichischen Bundeskanzler Christian Stocker als positives Fallbeispiel. Da hätte ich einen Einwand anzumelden. An der vorbildhaften Langweiligkeit von Christian Stocker lässt sich zweifeln, wenn man sich daran erinnern will, dass er im Wahlkampf 2024 jegliche Zusammenarbeit mit FPÖ-Chef Herbert Kickl kategorisch ausgeschlossen hat. Um ihn zu Jahresbeginn 2025 beinahe zum Kanzler zu machen. Sicher nur ein Missverständnis, es ist dann ja anders gekommen. Ich erwähne das nur, um zu dokumentieren, dass heute nicht vergessen werden muss, was gestern war. Für den Fall, dass es sich morgen wiederholt. 

    Zurück über den Brenner nach Südtirol, wo alles ja ganz anders ist. Dass die Südtiroler Volkspartei eine Koalition mit einer rechtspopulistischen Partei eingeht, kann man sich hierzulande ja kaum vorstellen. Ach so, ist bereits der Fall? Na gut, aber ein Bündnis mit der Südtiroler Freiheit  nach der nächsten Landtagswahl kann man ausschließen. Oder etwa nicht? Da müssen schon Sie mir weiterhelfen. 

     

    Aber da muss Ihnen schon Dieter Steger weiterhelfen. 

     

    Ich kann nur meine Vermutung äußern, dass die Südtiroler Hochschülerinnenschaft vor einigen alten und einigen neuen Herausforderungen steht. Um das Diktum von Michael Köhlmeier abzuwandeln. „Zum Guten kommen die Menschen auch mit kleinen Schritten.“ Ich lese, dass der Dauerbrenner „Studientitelanerkennung“ noch immer nicht ganz erledigt ist, ich habe erfahren, dass man gegen die Wohnungsnot von Studierenden – 600 Euro für ein Zimmer in Bozen? – etwas unternehmen will, auch gegen die Abwanderung von Fachkräften und notorisch Heimatfernen, wie ich es einer bin. Aus der Ferne betrachtet habe ich den Eindruck, dass die Hochschülerschaft für italienischsprachige Studierende noch keine natürliche Beheimatung darstellt. Mein Eindruck ist allerdings auch, dass Alexander von Walther einiges diplomatisch-pragmatisches Talent vorweisen kann. Immerhin ist er - wie sein Großvater - Mitglied der Südtiroler Volkspartei. Allerdings lese ich auch, dass er sich manchmal fragt, was er in dieser Partei eigentlich noch tut. Zitat:  „Sie ist eine Partei, die den Verbänden und der Wirtschaft sehr gut gefällt, sich aber zu wenig mit sozialen Themen befasst. Die SVP ist in den letzten Jahren nach rechts gerückt, das gefällt mir nicht.“ Interessant, ich dachte, aus der Perspektive eines Heimatfernen betrachtet, dass Arno Kompatscher mit der Partei eigentlich etwas ganz anderes vorhatte. Aber da muss Ihnen schon Dieter Steger weiterhelfen. 

    Alexander von Walther sagt dann auch noch: „Die Universität Bozen ist in ihrem Selbstverständnis und auch in der öffentlichen Wahrnehmung ein Servicebetrieb. Sie will der Politik gefallen.“ Interessant, offenbar kann der Vorsitzende also auch Kante zeigen. Und sie wird – noch einmal – nötig sein. Mit politischer Geräuschlosigkeit, mit langweiliger finanzieller Großzügigkeit ist künftig wohl auch in Südtirol nicht mehr zu rechnen. Die Frontleute der Hochschülerschaft werden – anders als ihre Ahnherren und Ahnfrauen – an völlig neuen Fronten zu kämpfen haben. Damals ging es ja darum, den erzkonservativen Dornröschenschlaf der Heimat zu stören; das Richtmaß des Handelns lag draußen, jenseits des Brenners, in der großen weiten, progressiveren Welt. Heute geht es darum, die erkämpften heimatlichen Freiräume abzusichern, zur Not zu verteidigen – gegen die große weite Welt der Willkürlichen da draußen, gegen ihre Nachahmungstäter in der heimatlichen Provinz. 

    Etwas vom Widerstandsgeist der altvorderen Haudegen, die sich an der Sammelpartei, an der Athesia, an der Rai gerieben und abgearbeitet haben, können Sie also vielleicht noch mitnehmen. Es muss ja nicht gleich eine Demonstration in der Bozner Museumstraße sein, ein neuer Großversuch, das versäumte Jahr 1968 im Jahr 2028 nachzuholen, Sie müssen nicht gleich  die nächste Weltrevolution vom Zaun brechen. Es muss auch keine schmerzverzerrte Heimatpoesie werden wie jene von Norbert Conrad Kaser und auch kein grandioses Schlachtfest. 
    Es würde genügen, ihn ganz nüchtern zu widerlegen. Zu widerlegen, dass hierzulande haufenweise heilige Kühe herumstehen, dass hierzulande bei Goethe schon stop ist. Und weil wir schon bei den oberlehrerhaften Empfehlungen sind, die Ihre Generation so liebt: Man könnte – ganz  im Gegenteil –  bei diesem Goethe ja wieder anfangen, der in seinem für junge Leute überaus empfehlenswerten Entwicklungsroman „Wilhelm Meister“ zu Papier gebracht hat: „Man sollte alle Tage wenigstens ein kleines Lied hören, ein gutes Gedicht lesen, ein treffliches Gemälde sehen, und, wenn es möglich zu machen wäre, ein vernünftiges Wort sprechen.“ Bei soviel großschriftstellerischer Bescheidenheit muss ich verstummen. Nur eines will ich noch nachreichen; was ich beim Nachlesen meiner alten Reportage über die unsympathischen Südtiroler in Innsbruck als Fazit formuliert habe. „Der Südtiroler Student ist ein Nomade zwischen den Mentalitäten, ein Tiroler Schädel mit mediterranem Flair.“

    Man kann diesen Satz auch als Kompliment lesen – oder etwa nicht? 

     

    Bozen, am 4.9.2025                                                                                   Andreas Pfeifer