Sozialisten geben Regierung eine Chance

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Nach einer Wahlschlappe bei den EU-Wahlen vor einem Jahr hatte Emmanuel Macron vorzeitige Neuwahlen ausgerufen, in der Hoffnung, seine angeschlagene Legitimität und Popularität wieder zu stärken. Das Ergebnis war allerdings eine weitere Niederlage. Die elf im Parlament vertretenen Parteien bilden drei in etwa gleich starke Blöcke: extreme Rechte, Mitte-Rechts-Block, gemäßigte bis radikale Linke und Grüne. Eine absolute Mehrheit schafft keines der Bündnisse.
Seither regiert haben das Land zwei Minderheitsregierungen der Mitte-Rechtsparteien, geduldet von Marine Le Pens Rassemblement National. Beide scheiterten allerdings am Versuch ein radikales Sparbudget zu beschließen, um die enormen Staatsschulden von mehr als dreitausend Milliarden Euro und das Haushaltsdefizit von 5,7% zu reduzieren. Die Schuldenkrise, Gewerkschafts- und Volksproteste gegen die Sparpläne und die mangelnde Regierungsmehrheit im Parlament drohen seit Monaten zur Staatskrise auszuarten. Weil der Ruf nach Neuwahlen oder gar nach einem vorzeitigen Rücktritt des Präsidenten immer lauter wurde, hat Macron jetzt eingelenkt und der zum dritten Mal neugebildeten Regierung substanzielle Abstriche beim Austeritätskurs genehmigt.
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Die neue Regierung und mehr Macht dem Parlament
Der neue – und dritte von Macron in einem Jahr ernannte – Premierminister, der 39jährige Sébastien Lecornu, konnte deshalb bei seiner Antrittsrede in der Assemblée Nationale am gestrigen Dienstag wirklich mit neuen Vorschlägen aufwarten. Die versprochene Wende soll sowohl den Regierungsstil als auch die Sparmaßnahmen betreffen.
- In der neuen Regierung sitzt so gut wie keiner der eingesessenen Parteiführer und möglichen Kandidaten zur Präsidentschaftswahl 2027 mehr. Dafür sind fast ein Drittel der Minister Quereinsteiger und Experten aus der Zivilgesellschaft.
- Im Unterschied zu bisher will die Regierung nicht mehr alle heiklen Gesetze mit der Verfassungsbestimmung 49/3 durchboxen. Eine Bestimmung, mit der die Regierung durch das Stellen der Vertrauensfrage jede Parlamentsdebatte über und jede Änderung an einem Gesetzestext beenden kann. Ein geplantes Gesetz kann dann nur mehr durch ein Misstrauensvotum verhindert werden. „Wir schlagen vor, Sie diskutieren, beraten und beschließen!“ – diesen Satz rief der neue Regierungschef den Parlamentarierinnen und Parlamentariern in seiner knapp 30-minütigen Rede gute zwei Dutzend Male zu. Nachdem der Premier und die gesamte Regierung ja vom Präsidenten ausgewählt und ernannt werden und der wöchentliche Ministerrat vom Präsidenten persönlich geleitet wird, bedeutet der Verzicht auf die 49/3-Bestimmung de facto einen Machtverlust des übermächtigen Staatschefs – das Parlament hat jetzt das letzte Wort.
Suspendierung der Pensionsreform, Reichensteuer und 10 Milliarden weniger EinsparungenAuch beim Budgetentwurf für 2026 sind die Zugeständnisse bedeutend.
- Anstatt der von Lecornus Vorgänger Francois Bayrou geplanten 44 Milliarden Euro an Einsparungen, sollen es jetzt nur mehr 30 Milliarden werden – obwohl der unabhängige staatliche Finanzrat da schon Bedenken angemeldet hat.
- Anstatt der von der Linken geforderten höheren Besteuerung aller Vermögen über 100 Millionen Euro schlägt Lecornu eine abgespeckte Variante vor, die Unternehmens- und Produktionswerte ausnimmt, dafür jedoch die Privatstiftungen steuerlich neu regeln will.
- Das zentrale und ausschlaggebende Zugeständnis Macrons ist jedoch die Suspendierung der Pensionsreform bis zur Präsidentenwahl 2027.
Die 2023 in Kraft getretene Reform sieht eine automatische, etappenweise Anhebung des gesetzlichen Antrittsalters von 62 auf 64 Jahre und eine gleichzeitige Anhebung der erforderlichen Beitragsjahre vor.
Laut Umfragen lehnen 82 % der Bevölkerung die Reform ab. Seit zwei Jahren gibt es regelmäßig Streiks, 2023 kam es zu teils gewaltigen Massenprotesten und trotzdem lehnte Präsident Macron jede auch noch so geringe Korrektur strikt ab. Dass die neue Regierung jetzt die sofortige Suspendierung bis zum Amtsende des Präsidenten beschließen wird, kommt unmittelbar 3,5 Millionen Franzosen und Französinnen zugute. In den bleibenden knapp anderthalb Jahren sollen neue Beratungen und Verhandlungen der Regierung, der Sozialpartner und verschiedenster Experten eine neue Regelung ausarbeiten – und das Wahlvolk dann die jeweiligen Präsidentschaftskandidaten je nach deren Position beurteilen können.
Die Sozialisten retten den Regierungsstart – die politische Instabilität bleibtMarine Le Pen und ihr Rassemblement National sehen in der angekündigten Wende Sébastien Lecornus lediglich ein neues Täuschungsmanöver der „Systemparteien“, um an der Macht zu bleiben. Sie fordern – von ihren Umfragewerten (35-37 %) ermuntert - Neuwahlen und haben schon einen Misstrauensantrag eingebracht. Ebenso die radikale Linke der „France Insoumise“. Ihr Anführer Jean-Luc Mélenchon fordert seit langem den Rücktritt Macrons, weil er narzisstischerweise felsenfest davon überzeugt ist, er würde in einem Duell Marine Le Pen besiegen. Beide Anträge werden am morgigen Donnerstag zur Abstimmung gebracht. Für den Antrag der Linken wollen die Grünen und die kleine kommunistische Partei stimmen.
Für keinen der beiden Anträge werden hingegen die Mitte-Rechts-Parteien Stimmen, wenn auch widerwillig und möglicherweise nicht hundertprozentig geschlossen. Damit sind die 69 Abgeordneten der Sozialdemokraten das Zünglein an der Wage. Sie feiern die Zugeständnisse von Lecornu/Macron als ersten bedeutenden Sieg und kündigen an, bei den Abstimmungen zum Budget im Parlament für weitere soziale Maßnahmen zu kämpfen. Fazit: die neue Regierung ist vorerst gerettet, Neuwahlen und ein angesagter weiterer Wahlsieg der extremen Rechten verhindert. Aber Lecornu wird jetzt für jedes Gesetz in der nach wie vor gespaltenen Assemblée Nationale jeweils Mehrheiten finden müssen und ist vom Wohlwollen der bei 577 Abgeordneten doch kleinen, in der Opposition bleibenden sozialistischen Partei abhängig.
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