Politik | Gastbeitrag

Furchtlos Position ergreifen

Man muss ihn nicht lieben, doch leichtfertigen Journalismus kann man ihm nicht vorwerfen: Darum ist Christoph Franceschini „Politische Persönlichkeit des Jahres 2022“.
Christoph Franceschini
Foto: Politika

Kann denn Liebe zum Journalismus, wie ihn Christoph Franceschini betreibt, Sünde sein? Für die Präfekten der Journalisten-Glaubenskongregation wahrscheinlich schon: despektierlich, ja respektlos, immer auf der Suche nach dem Haar in der Suppe, nach dem Negativen, nie nach dem Positiven. Einer, der im Freund-Feind Schema schreibt, mit der einzigen Genugtuung, jemanden in die Pfanne zu hauen. Ausgewogenheit? Objektivität? Gar Wahrheit? Das ist nichts für Franceschini, sind all jene überzeugt, die ihn nicht lieben.

Man muss ihn auch nicht lieben. Man kann, man soll ihn auch kritisieren, gerne auch hart. Nicht immer findet er den richtigen Ton, nicht immer sind seine Beiträge bis ins letzte Detail recherchiert, oft unterlaufen ihm im schnellen Tagesgeschäft auch Fehler. Er selbst gibt zu, manchmal zu polemisch zu sein.

Aber niemand kann ihm vorwerfen, dass er leichtfertig schreibt. Leichtfertig bedeutet, ohne Selbstreflexion, ohne Selbstkritik, ohne Empathie auch für die andere Seite. Franceschini hat seine Vorstellungen vom Leben, aber auch vom Journalismus. Und weil er überzeugt ist, es sei wichtig, im Leben Position zu ergreifen, ist er genauso überzeugt, dass auch der Journalismus verlangt, Position und Partei zu ergreifen.

Die Funktion des Journalismus ist unter anderem die Herstellung von Öffentlichkeit, die gewährleistet, dass eine Gesellschaft auf der Grundlage von tagtäglichen Beschreibungen beobachtet wird

Franceschini steht für einen investigativen Journalismus, Gegenpol zum Termin- und Gefälligkeitsjournalismus. Der Mann, der auch ein begeisterter Musiker ist, blickt gern hinter die schönen Fassaden der sozialen Wirklichkeit, wenn möglich entblößt er Machtverhältnisse, zeigt die Verquickung zwischen Politik und Wirtschaft auf, entlarvt, dass einige unter dem Deckmantel des Allgemeinwohls kräftig eigene Interessen vertreten.

Franceschini ist nicht der einzige unter den Journalisten und Journalistinnen Südtirols, der sich diesem ethischen Anspruch des Journalismus verpflichtet fühlt und dabei eigentlich nichts anderes tut, als den traditionellen Aufgaben des Journalismus nachzukommen. Zu dessen Aufgaben gehören nach wie vor die Information, Kritik und Kontrolle sowie Bildung und Erziehung, heute ergänzt durch Unterhaltung und Orientierung.

Wahrscheinlich gibt es mehr Kolleginnen und Kollegen als man denkt, die in Südtirol Tag für Tag ihrem Job mit Seriosität, Hartnäckigkeit, ethischer Verantwortung nachkommen. Franceschini ist also kein Einzelfall in Südtirol. Aber er ist einer, der vielleicht einen 6. journalistischen Sinn hat, den Sinn für eine brisante Geschichte. In der öffentlichen Wahrnehmung wird Franceschini als „Aufdecker“ betrachtet, wie Günter Wallraff in Deutschland, wenn auch nicht so gewieft und spektakulär. Wallraff nahm ständig eine andere Identität an. Das wäre bei Franceschini schon wegen seiner langen Haare nicht möglich, von denen er sich auch in den nächsten Jahren nicht trennen wird, wenn überhaupt.

 

Wenn sich jemand den Ruf erworben hat, furchtlos gegen all jene anzuschreiben, die lieber zudecken als aufdecken, nehmen die Informanten und Informantinnen zu. Die Zunahme von brisanten Geschichten erhöht sich dann proportional zur Zunahme der erhaltenen Informationen. Dreht sich einmal das Rad, läuft es immer geölter und schneller. Man kann getrost behaupten, dass keiner politisch so vernetzt ist wie Franceschini. Einmal an einer Geschichte dran, gilt für ihn der Gleichheitsgrundsatz, weil er vor seiner Tastatur keine Unterschiede der Person macht.

Franceschini ist schon lange Journalist. 1964 in Eppan geboren, hat er an der Universität Innsbruck Geschichte, Philosophie und Politikwissenschaft studiert. Bei Professor Rolf Steininger hat er am Institut für Zeitgeschichte seine Diplomarbeit geschrieben: „Krieg der Masten - Die Geschichte der Südtirol-Attentate.“ Das war 1994. Da er Wichtigeres zu tun hatte, hat er seine Arbeit nie eingereicht, wurde aber von Steininger, immer korrekt, ausgiebig in seinen Publikationen zitiert. Bei diesem Thema ist ausnahmsweise der Lehrer auf die Schultern des Schülers gestiegen. Franceschini hat gern getragen.

Seine journalistische Laufbahn begann er 1984 als freier Mitarbeiter von Rai-Südtirol. 1988 kam er zum Wochenmagazin ff, war dann bei der Neuen Südtiroler Tageszeitung, die er nach 17 Jahren verließ, weil sie für ihn eine zu starke Boulevard-Schlagseite eingenommen hatte. Seit 2015 ist er journalistischer Bezugspunkt des Onlineportals salto.bz, das er von 2016 bis 2019 als Chefredakteur leitete. Zwischendurch hat er auch für das österreichische Nachrichtenmagazin profil geschrieben, gern wenn es um Südtirolthemen ging.

Ausgewogenheit? Objektivität? Gar Wahrheit? Das ist nichts für Franceschini, sind all jene überzeugt, die ihn nicht lieben – man muss ihn auch nicht lieben

Franceschini liebt den Tagesjournalismus, hat aber auch einen langen, vor allem historischen Atem. Er ist Gestalter und Regisseur mehrere Dokumentarfilme zu  historischen und politischen Themen. Dass er ein Journalist von Qualität ist, belegt der Claus-Gatterer-Preis, den er im Jahre 2005 für seinen sechsteiligen Dokumentarfilm „Bombenjahre – Die Geschichte der Südtirol-Attentate“ – erhalten hat.

Mit Claus Gatterer, dem großen Südtiroler Journalisten, teilt Franceschini mindestens drei Eigenschaften: wie Gatterer ist auch Franceschini mit den Printmedien groß geworden, um sich dann dem Film, vor allem dem Dokumentarfilm zuzuwenden. Gatterer meinte, sein einziger Verdienst sei die Neugier und die Fähigkeit, zuzu  hören. Auch Franceschini betont die Tugend der Neugier. Und drittens, beide stehen zu jenen, die auf der Schattenseite des Lebens leben.

Gatterer setzte sich für den Schutz der gesellschaftlichen Minderheiten ein, für die Verteidigung sozialer Randgruppen, trat für zu Unrecht benachteiligte und missachtete Gruppen oder Personen ein, engagierte sich für kritisches Bewusstsein gegen Ignoranz und Gleichgültigkeit in der Gesellschaft. Für Franceschini sind dies die Leitlinien seines journalistischen Tuns.

Gatterer hat bedeutende Bücher zur Geschichte Südtirols geschrieben. Franceschini hat ebenfalls eine Reihe von Büchern geschrieben, die aber stärker in Richtung Aufdeckung von Skandalen gehen. Seine Publikationen „Selfservice – Ein Südtiroler Skandal“ (Edition Raetia, Bozen 2014), „Bankomat – Die Millionenverluste der Südtiroler Sparkasse“ (Edition Raetia, Bozen 2015) haben ihm Prozesse beschert, die ihn allerdings nicht zum Schweigen gebracht haben. Die auch gerichtlichen Auseinandersetzungen mit den Akteuren, die plötzlich nackt dastanden, haben wieder aufgezeigt, dass die „Gleichheit vor dem Gesetz“ ein rein formales Prinzip ist. Wenn sich zwei ungleich ökonomisch starke/schwache Gegner gegenüberstehen, ist die formale Gleichheit vor Gericht längst widerlegt.

Franceschini steht für einen investigativen Journalismus, Gegenpol zum Termin- und Gefälligkeitsjournalismus

Seine beiden letzten Bücher: „Geheimdienste, Agenten, Spione – Südtirol im Fadenkreuz  fremder Mächte“ (Edition Raetia, Bozen 2020) und „Segretissimo – Südtirol im Fadenkreuz fremder Mächte“ (Edition Raetia, Bozen 2021), haben auch außerhalb Südtirols für Aufsehen gesorgt.

Ein politisch investigatives Buch hat er im letzten Jahr mit seinem Journalistenkollegen von der Neuen Südtiroler Tageszeitung, Artur Oberhofer, veröffentlicht. „Freunde im Edelweiss. Ein Sittenbild der Südtiroler Politik“ (Edition AROB, Bozen 2022) zeigt auf, welche Seilschaften hinter den Kulissen im Lande wirken, um ihre privaten Interessen durchzusetzen. Und welche politisch großkalibrige Akteure dabei involviert sind.

Dieses Buch und die damit einhergehende Berichterstattung mit den damit verbundenen politischen Konsequenzen waren der Auslöser, weshalb die Wahl als Politische Persönlichkeit des Jahres 2022 auf Christoph Franceschini gefallen ist. Aber der Anlassfall hätte nicht genügt. Es ist die jahrelange, hartnäckige, nicht nachlassende journalistische, investigative Tätigkeit, die Christoph Franceschini über den Anlassfall hinaus kennzeichnen.

Wie Günter Wallraff ständig eine andere Identität anzunehmen wäre bei Franceschini schon wegen seiner langen Haare nicht möglich, von denen er sich auch in den nächsten Jahren nicht trennen wird, wenn überhaupt

Der Journalismus befindet sich heute in einem tiefgreifenden Transformationsprozess. Es tut sich nicht nur eine immer größer werdende Kluft auf zwischen expandierenden Medienangeboten und stagnierender Mediennutzung. Die dynamische Entwicklung des Journalismus beruht in der Zwischenzeit auf neuen, langanhaltenden technologischen und sozioökonomischen Trends, zwischen Autonomisierung des Mediensystems und zunehmender „ökonomischen Kolonisierung“. Immer stärker sind Journalisten und Journalistinnen zwischen Anpassungs- und Identitätskonflikten eingepresst.

Die Funktion des Journalismus ist unter anderem die Herstellung von Öffentlichkeit, die gewährleistet, dass eine Gesellschaft auf der Grundlage von tagtäglichen Beschreibungen beobachtet wird. Damit geht auch die Selbstbeobachtung einer Gesellschaft  einher. Journalismus und Öffentlichkeit sind entscheidende Voraussetzungen, damit sich soziale Systeme (wie Politik, Wirtschaft, Kultur usw.) selbst beobachten können und dadurch Korrektive entwickeln. Dazu braucht es den unabhängigen Journalismus und den Medienpluralismus als Grundvoraussetzungen jeder Demokratie.

Dazu leistet Christoph Franceschini zusammen mit all den anderen, die sich diesem Anspruch verpflichtet fühlen, im Mediensystem Südtirols einen essenziellen Beitrag. Es braucht dazu, um die Politische Persönlichkeit des Jahres 2022 selbst zu zitieren: „Neugierde, Enthusiasmus und eine dicke Haut“.